Radio Miracoli und andere italienische Wunder
sein, dass hier in letzter Zeit ein Mann vorbeigekommen ist … so um die sechzig, klein und mager?«
»Nein, wir haben ja noch geschlossen. Hierher verirrt sich niemand«, sage ich.
Und um die Glaubwürdigkeit meiner Antwort zu unterstreichen, suche ich Faustos Blick, der heftig nickt.
»Auch nicht zwei jungen Typen auf einem Motorroller?«
»Aber nein, Sie sind die ersten Besucher«, beteuere ich.
Der Alte dreht sich zu den beiden Männern um und schüttelt leicht den Kopf. Die beiden nicken bedächtig.
Nach diesem kurzen Exkurs entwickelt sich das Gespräch wie gehabt. In der Ausführung ein wenig verändert, bleibt es mit unbedeutenden Abweichungen der gleiche Text. Leicht gelangweilt (ein Gefühl, das in diesem Zusammenhang eher unwahrscheinlich erscheinen mag) folgen wir der Unterhaltung. Erst gegen Ende erregt eine individuelle Variante des bekannten Drehbuchs doch noch unsere Aufmerksamkeit.
»Hier in der Gegend hat sich der Staat keine großen Verdienste erworben. Wenn tatsächlich mal etwas vorwärtsging, dann nur dank gewisser Familien … Also, das wäre dann so, als würdet ihr Steuern zahlen, aber statt sie denen in den Rachen zu werfen, die nichts tun …« Er lässt den Satz offen.
Wir einigen uns auf die bereits bekannte Summe, zahlbar in zwei Raten, wie wir bereits wissen. Franco ist der Bote, der das Geld abholen wird. Das ist der Mann mit dem Spitzbart, wie uns der Alte erklärt. Franco ist um die vierzig, von kräftiger Statur und von Natur aus schlecht gelaunt. Wäre er kein Camorrista, würde er einen glaubwürdigen Rausschmeißer oder Fallschirmjäger abgeben. Das Gespräch verläuft in so herzlicher Atmosphäre, dass ich im Augenblick des Abschieds das Gefühl habe, einem netten Onkel Auf Wiedersehen zu sagen.
Als der Wagen auf die Schotterstraße einbiegt, kommt Sergio mit einem beruhigenden Lächeln auf uns zu. Ich will gerade zu ihm sagen: »Siehst du, so schlimm ist es doch gar nicht«, aber er kommt mir zuvor.
»Hast du gehört?«
»Was?«
»Es wird nur einer allein kommen.«
»Sergio, an so etwas darfst du nicht einmal denken!«
Sergio kehrt mir den Rücken zu und geht grinsend ins Haus zurück. Ich suche Faustos Blick, aber auch er dreht sich um und macht sich wieder an die Arbeit. Ich folge Sergio und gestehe mir dabei ein, dass auch ich, trotz meiner Warnung, einen Moment lang geglaubt habe, dass wir diesem Franco dasselbe Ende bereiten könnten wie den anderen. Aber nur einen sehr kurzen Moment lang. Mit vier Gefangenen wären wir definitiv überfordert, ganz zu schweigen davon, dass dieser Franco gewiss nicht zum Fußvolk gehört und dass sein Verschwinden uns jede Menge Ärger einhandeln würde.
Claudio wartet im Haus auf uns, zitternd wie ein verängstigtes Eheweib. Wir erzählen ihm, dass der Alte ein hohes Tier sein muss, dass er aber keinerlei Verdacht wegen der Gefangenen hegt und generell ein eher freundlicher Mensch zu sein scheint. Wenn wir zahlen, dürften wir kein Problem mehr haben.
»Na, dann zahlen wir eben …«, sagt Claudio.
»Aber ja, wir zahlen und haben endlich wieder unsere Ruhe«, falle ich ihm ins Wort
Eigentlich erwarte ich, Erleichterung über sein Gesicht huschen zu sehen, aber stattdessen nickt Claudio traurig. Was haben sie denn nur alle?
29
Wir beschließen, dass es an der Zeit ist, mit Vito ein Gespräch unter Männern zu führen, ohne dass uns die anderen beiden dabei auf die Nerven gehen. Als wir das Mittagessen in den Keller bringen, geben wir dem Alten ein Zeichen, uns zu folgen.
»Was habt ihr mit ihm vor!«, ruft alarmiert der Schmächtige.
»Er kommt gleich wieder«, versichert Sergio ihm, packt den Alten am Kragen und schiebt ihn durch die Tür.
Kaum betritt Vito die Küche, fangen seine Augen zu tränen an, und er hält sich schützend eine Hand davor. Rasch holt er seine Sonnenbrille aus der Brusttasche seines Hemds und setzt sie sich auf. Trotz der dunklen Gläser ist er wie geblendet, und wir müssen ihn an den Tisch führen, den wir für ihn gedeckt haben.
Vito lässt sich das Ragout schmecken, während wir an seinen Lippen hängen. Mittlerweile haben wir uns an den hiesigen Dialekt gewöhnt
»Also, der Alte mit dem Sauerstoff, das ist einer, der wirklich was zu sagen hat. Es passiert äußerst selten, dass er sich persönlich blicken lässt.«
»Haben sie uns im Verdacht?«, fragt Sergio.
»Bei aller Liebe, aber wie richtig böse Buben wirkt ihr absolut nicht. Hier in der Gegend gibt es Typen, die viel
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