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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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die Tränen geflossen, vor allem, als sich Harry vorstellte: Harry, der schüchterne, schütterhaarige Magdeburger,
     der unsere Deckadressen mit Fanbriefen bombardiert hatte und sogar ein paar Dutzend Male per Telefon durchgekommen war – es
     war zu DDR-Zeiten nicht leicht, mit den ostdeutschen Hörern Kontakt zu halten.
    Er hatte dagestanden, nur mit dem Kopf geschüttelt, meine Hand festgehalten, als wolle er sie ausreißen und mitnehmen, und
     vor Heulerei kein Wort herausgebracht. Ging mir allerdings genauso. In dieser Sendung hatte ich ausnehmend wenig gesagt, nur
     Wunschtitel gespielt und zweimal fast die Nachrichten verpennt. Danach war ich mit den Ossis in unsere »Asservatenkammer«
     gegangen: das kleine Lager, in dem wir die Goodies sammelten, die uns die Promoter der Plattenfirmen kistenweise überreichten,
     Werbematerial für Künstler und Platten, Dinge, die nie in den normalen Merchandising-Zyklus kamen, sondern nur für diese Zwecke
     gemacht wurden: schweineteure Lederjacken mit »Guns ’N Roses«-Aufdrucken, Aschenbecher, Füllfederhalter, Schals, Schreibmappen,
     ganze Jogginganzüge, Aerosmith-Sonderausgaben von Nike-Sneakers und natürlich Unmengen Feuerzeuge, bis hin zu Sonderprägungen
     des
Zippo
in Gold. Natürlich war nicht alles teuer, und die wirklich teuren Sachen landeten auch nicht in der Kammer. Aber es waren
     solch große Mengen, daß wir nicht alles behalten konnten. Was wir nicht verschenkten, wurde gehortet. Als die Privatsender
     zu boomen begannen, wurde die Geschenkepolitik der Plattenfirmen allerdings etwas zurückhaltender.
    |112| »Nehmt euch, soviel ihr tragen könnt«, sagte ich.
    Und das taten sie. Danach gingen wir einen saufen. Ich kam knapp zur nächsten Sendung zurück. Am nächsten Tag. Direkt aus
     der Kneipe. Auch in dieser Sendung sagte ich nicht viel. Nur das Nötigste.
     
    »Coole Sache, das«, sagte Vögler, ohne das Gesicht irgendwie zu verziehen. Er meinte die Maueröffnung. Ich nickte.
    Wir gingen zu
Benno
, einem kleinen, schmierigen Italiener mit ganz grauenhaftem Essen und einem Parmesankäse, der schon nicht mehr nach Kotze
     roch wie der beim obligaten Billigitaliener in Neukölln oder Wedding an der Ecke, sondern nach noch mal ausgekotzter Kotze.
     Aber es war der nächste Laden, und selbst unser Etepetete-Programmchef Markmann latschte ab und zu da hin. Radioleute sind
     superfaul, durch die Bank. Wofür sie sich engangieren, das ist die nächste Line, die knackige siebzehnjährige Fan-Zuhörerin
     (die meistens ziemlich verdaddert ist, wie häßlich die tolle Stimme aussieht) und daß ja niemand die Bemusterungen anfaßt,
     die Zusendungen der Plattenfirmen mit den Neuerscheinungen.
    »Was gibt’s?« fragte ich, nachdem ich bei Benno höchstselbst etwas Pasta, ein großes Bier und einen Jack Daniel’s auf Eis
     bestellt hatte – Pasta
ohne
Parmesan.
    Vögler sah auf die Uhr. »Kurz nach sechs. Ist das nicht ein bißchen früh für so ein Menü?«
    »Ich hab’ Feierabend«, sagte ich lächelnd. »Außerdem bin ich
Radiomann
. Da gehört die Sauferei dazu.« Ich steckte mir eine Kippe an. »Und die Raucherei.«
    »Dachte ich mir«, sagte Vögler, ebenfalls lächelnd, und zündete sich eine Lucky Strike ohne Filter an. Als Benno mit den Drinks
     kam, orderte er einen dreifachen Wodka zu seinem Bier.
    »Also, was gibt’s?« wiederholte ich.
    Jetzt grinste Vögler breit. Er hatte einen Timer bei sich, so einen Filofax-Vorläufer, im A4-Format, der vor ihm auf dem |113| Tisch lag. Er klappte ihn auf. Und reichte mir drei Aufkleber, ziemlich große.
    »Du sammelst so was, habe ich gehört.«
    Ja,
so was
sammelte ich. Heilige Scheiße! Das waren Originalaufkleber von
XERF-AM
, gedruckt irgendwann Anfang der Sechziger, ganz leicht vergilbt. Zu der Zeit, als der legendäre
Wolfman Jack
über diesen Sender – von mexikanischem Staatsgebiet aus – mit 250 000 Watt die USA befeuerte, mit der fünffachen Leistung dessen, was in den Staaten zugelassen war.
Rock and Roll!
George Lucas hatte ihm 1973 mit dem Film
American Graffiti
ein Denkmal gesetzt.
    »Wow.«
    »Geschenkt.«
    »Danke. Prost.« Ich kippte meinen Jack, den Benno gerade gebracht hatte, und orderte gleich noch einen.
    »Wie kann ich mich revanchieren? Oder, besser gesagt: Was
muß
ich dafür tun? Ein solches Geschenk macht man schließlich nicht einfach so.« Ich betrachtete ehrfürchtig die Aufkleber, rarer
     Stoff, lebendige Radiogeschichte. Wolfman Jack war zwar nicht
wirklich
der

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