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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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geklatscht hatten, und die Stadtmitte hatte auch das quittiert, indem sie sich Jahrzehnte
     später einfach nach Osten verlagerte. |232| Gut, am Potsdamer Platz entstanden inzwischen neue Sünden, Gebäude, für die wir uns in ein paar Jahren schämen werden, doch
     mich fragte ja niemand. Außerdem war Berlin nicht mehr
meine
Stadt, würde es vielleicht nie mehr sein – ich kam mir wie ein Tourist vor. Marbrunn war jetzt meine Heimat, und was auch
     immer in oder mit Berlin passierte, ich hatte genug Abstand, um darüber zu lächeln. Meistens, jedenfalls. Vielleicht machte
     ich mir einfach etwas vor, das konnte ich schon immer gut. Sagte Frank.
     
    Etwa dreihundert Leute versammelten sich im Saal 3, vorher draußen im Foyer, tranken hastig den gereichten Sekt (gra tis , natürlich), das Bier, sogar das Mineralwasser. Verputzten lieblos belegte Brötchen mit Aldi-Lachs und kalten Buletten, wahrscheinlich
     ohne den leisesten Hunger zu haben. Hauptsache, rein damit, bevor es ein anderer frißt. Solche Leute werde ich nie verstehen.
    Frank und ich standen herum und beobachteten. Ich entdeckte Bosedrow, den Gründer von
Boulevard Berlin
, übrigens längst ausgebootet; Bosedrow, den alle nur
Kimono
nannten, weil er in seiner Villa im Grunewald Leute grundsätzlich im Bademantel empfing: Er sah in jeder anderen Kleidung
     noch schrecklicher aus, der feiste Typ, speckig bis zum
Getno
, Riesenbauch, aufgequollenes Gesicht und Finger wie Weißwürste, mittendrin eine sentimentale, arg gebeutelte, unverstandene
     Künstlerseele. Er sah mich kurz an, dachte offensichtlich nach, erkannte mich allerdings nicht, erinnerte sich nicht an die
     drei, vier Nachmittage in seiner Villa, als er versucht hatte, mich abzuwerben – irgendeine Wirkung mußte das viele Koks ja
     haben. Andere erkannten mich, sahen aber auch wieder weg, hauptsächlich
Power - Leute
. Für die war ich anscheinend eine
persona non grata
. Vögler sah ich nirgendwo, der saß sicherlich mit seinem Aufsichtsrat in einem Hinterzimmer und legte sich Formulierungen
     zurecht. Ich beneidete ihn nicht.
     
    |233| Er hatte sich nicht verändert, trug allerdings kein Basecap mehr, wodurch man seine Unfrisur gut erkennen konnte, dafür einen
     teuren Anzug, wahrscheinlich sogar Maß. Hemd, Krawatte – kein T-Shirt, keine ausgelatschten Schuhe. Nicht einmal einen von
     diesen unlustigen Motivschlipsen, vögelnde Schweine oder so, das hätte gepaßt. Frank und ich trugen ostentativ
PowerRock -T-Shirts
, zwei hatte ich noch gefunden.
    Nein, Vögler machte ganz auf Business, das war tatsächlich seine einzige Chance, und vielleicht war das auch seine wahre Natur.
     Wenn er so was überhaupt besaß.
    Er eröffnete die Versammlung, wir saßen in Reihe vier, ich konnte die Poren an seiner Nase sehen. Er schwitzte ganz leicht,
     aber sein Gesicht bleib ausdruckslos, wie immer. Hinter den sieben Aufsichtsratsmitgliedern, die auf der Bühne Platz genommen
     hatten, hing ein großes Transparent mit dem Logo der Station, ohne Spruch, ohne Motto, ohne Slogan: Es hätte auch keiner gepaßt,
     jedenfalls kein positiver, höchstens etwas wie »Wir machen’s wie alle« oder »Wir sind
genau
wie die anderen«. Das war es nämlich. Den Hörer daran zu hindern, den Sender zu wechseln, weil der Angst haben muß, ihn im
     Einheitsrauschen
niemals
wiederzufinden.
     
    Ansprache, Formalitäten und dann Zahlen über Zahlen, Quartalsergebnisse, Kurse, Gewinne vor oder nach Steuern, solches Zeug,
     endlos. Frank machte sich Notizen – alles, was die Jungs da vorne erzählten, lag in ausgedruckter Form vor uns, in dicken
     Hochglanzmappen, so was beeindruckt. Es gab ein Entlastungsverfahren, das ich inhaltlich nicht ganz peilte, Frank meinte,
     ich solle zustimmen – die Abstimmerei war ein ziemlich wirres Procedere. Dann wurde es spannend, denn es ging um die Neubesetzung
     des Aufsichtsrates. Niemand war überrascht, als Vögler erneut für den Vorsitz kandidierte.
    Ich drückte auf den Knopf, um eine Wortmeldung zu machen.
     
    |234| Bevor ich an die Reihe kam, traten ein paar andere Figuren auf, hauptsächlich Leute, die die Kompetenz Vöglers, sein Durchhalten
     auch in
schwierigen Zeiten
(die er selbst fabriziert hatte, doch das erwähnte interessanterweise niemand), seine
Vision
und diesen Schnodder hervorhoben – inhaltsleeres Gefasel, um einen positiven Gesamteindruck herzustellen, trotz haarsträubender
     GfK-Zahlen, Tendenz weiter fallend, und
Verlusten
im vergangenen

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