Radioactive (Die Vergessenen) (German Edition)
kann. Irgendwo hinter der Hülle aus Gefühllosigkeit und Mechanismus muss sich bei jedem noch eine einzigartige Persönlichkeit verbergen, die nur darauf wartet, geweckt zu werden. Trotzdem würde es mir in diesem Moment helfen, wenigstens ein bekanntes Augenpaar in der Menge wiederzuerkennen. Ich lasse meinen Blick über die vielen Gesichter schweifen. Von hier oben sehen sie tatsächlich alle gleich aus. Während die Menschen vor mir wie Roboter verharren, spüre ich bei den Legionsführern hinter mir eine leichte Ungeduld aufkommen. Gerade als ich meine Suche aufgeben will, sehe ich ihn. Er steht zusammen mit einem anderen Kämpfer vor der Tür zur Krankenstation Wache, weshalb ich ihn nicht sofort entdeckt habe. Doch anstatt Zuversicht und Aufmunterung lese ich in Clydes Augen Wut und Enttäuschung. Er starrt mir direkt in die Augen und vermittelt mir auch ohne Worte, was er über mich denkt. Er glaubt, ich hätte ihn und Zoe verraten.
Wenn ich zuvor noch nicht nervös gewesen wäre, wäre ich es spätestens jetzt. Mir sitzt ein richtiger Kloß in der Kehle und ich spüre, wie Schweißperlen meinen Rücken hinabrinnen und meine Stirn benetzen. Die warme Hand von A350 legt sich auf meine Schulter. „Fang jetzt an!“, fordert sie mich auf. Es ist ein Befehl und keine Bitte.
Ich räuspere mich. Das Geräusch ist im ganzen Atrium zu hören und hallt verstärkt von den Wänden wider.
„ Willkommen! A518 begrüßt euch.“
Meine Stimme ist schwach und strahlt nicht die Stärke aus, die ich selbst von den Legionsführern immer gewohnt war. Natürlich habe ich mir zuvor schon Gedanken darüber gemacht, was ich sagen könnte, doch der Text ist plötzlich wie ausgelöscht. Ich atme tief ein und aus und denke an A350s Worte zurück.
„ Du brauchst keine Angst zu haben und du brauchst auch keinen Text. Du hast dich so sehr für die gemeinsame Nahrungsvergabe eingesetzt, dass du nur dein Herz sprechen lassen musst.“
„ Der Mensch ist ein Herdentier. Würde man ihn alleine in eine Zelle stecken, ohne den Kontakt zu anderen Menschen, so würde er eingehen, wie eine Pflanze ohne Wasser.“
Zu spät fällt mir ein, dass keiner der Menschen in der Sicherheitszone je eine lebende Pflanze gesehen hat. Sie kennen sie nur aus dem Bildungsunterricht, aber bereits da waren wir immer fasziniert von ihrer Schönheit.
„ Der Grund, warum die Menschen damals den dritten Weltkrieg überlebt haben, ist, dass sie sich zusammengeschlossen haben. Hätte jeder für sich gekämpft, so gäbe es heute wahrscheinlich nicht mehr einen von uns.“
Ich blicke zu Clyde. Er wirkt nach wie vor wütend, aber auch interessiert. Er hört mir zu.
„ Die Legion gab den Menschen ein Zuhause. In der Sicherheitszone waren sie in Sicherheit, obwohl die Welt in Trümmern lag. Das Ziel der Menschen war es zu überleben. Tag und Nacht arbeiteten sie an einer Zukunft für die ihnen nachfolgenden Generationen. Sie kämpften für unser Leben.“
Obwohl die Gesichter der meisten Menschen genauso leer und leblos wie zu Beginn meiner Rede wirken, sehe ich bei einigen wenigen ein Aufblitzen in den Augen. Ich erreiche sie mit meinen Worten. Diese Erkenntnis gibt mir die Kraft und den Mut fortzufahren.
„ Doch jetzt liegt es an uns, für unsere Zukunft zu kämpfen. Die erste Generation der Legion gab uns Sicherheit. Unsere Aufgabe ist es, daraus mehr zu machen. Wir brauchen nicht nur einen Ort, der sicher ist, sondern einen Ort, den wir unser Zuhause nennen können. Wir brauchen Menschen um uns herum, die uns dafür schätzen, wer wir sind. Wir brauchen eine Familie.“
Ich lese Verwirrung in den Augen der Menschen vor mir. Meine Worte sind neu für sie. Bisher war ihnen jegliche Art von Gefühl untersagt und ich fordere sie genau dazu auf. Doch aus Clydes Augen ist dafür jede Form der Missbilligung verschwunden. Als unsere Blicke sich begegnen, nickt er mir anerkennend zu. Meine Reaktion darauf ist ein Lächeln. Ein Lächeln vor Menschen, die nie zuvor mit Liebe oder Zuneigung gesegnet wurden. Mein Lächeln soll ein Geschenk an sie sein und ihnen gleichzeitig deutlich machen, dass ich meine Worte ernst meine. Ich erlaube ihnen zu fühlen.
Aber hätte A489 den Text meiner Rede vorher gekannt, hätte er mir niemals erlaubt zu sprechen. Denn er ist außer sich. Ich kann seine zischende Stimme permanent wie ein Rauschen hinter mir hören. Er möchte, dass ich sofort aufhöre. A350 kann ihn nur mit Mühe daran hindern, nach vorn zu stürzen und mir das
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