Radioactive (Die Vergessenen) (German Edition)
denken!“ Sie wendet den Kopf von mir ab und starrt auf die grünen Wände, doch vor ihren Augen scheint ein Film abzulaufen, den nur sie selbst sehen kann. Es muss ein schrecklicher Film sein.
„ Kann ich dir irgendwie helfen?“
Sie schüttelt erneut energisch den Kopf. „Das kann niemand. Egal was auch passiert, die Erinnerungen werden immer wie Narben in mir zurückbleiben. Ich bin für den Rest meines Lebens entstellt.“
Selbsthass spricht aus ihren Worten. Sie tut mir so leid, dass ich glaube, einen Teil ihres Schmerzes in meiner eigenen Brust zu spüren.
„ Du könntest von vorne anfangen. Lass dein altes Leben hinter dir und beginne ein neues.“
Sie wendet mir das Gesicht zwar wieder zu, aber in ihren Augen liegt Unglaube. „Wie soll das gehen? Ich bin immer noch hier.“
„ Es ist egal, wo du bist. Entscheidend ist nur, wer du bist.“
„ Und was, wenn ich nicht mehr ich selbst sein will?“
„ Dann erschaffe ein neues Ich. Jemanden, auf den du stolz wärst.“
Ich sehe, wie sie über meine Worte nachdenkt, und weiß, wie ich ihr das letzte Zögern auch noch nehmen kann.
„ Jemand mit einer eigenen Persönlichkeit sollte keine Nummer als Bezeichnung tragen, sondern einen Namen haben.“
Ihre Augen werden groß. „So wie du?“
„ Ja, so wie ich und alle freien Menschen. Es sollte ein Name sein, der zu deinem neuen Ich passt.“
Sie zuckt pessimistisch mit den Schultern. „Ich kenne keine Namen.“
„ Aber ich, und ich weiß auch schon, welcher zu dir passen würde.“
Ich lächle ihr entgegen und sehe mit Freude, wie die Tränen auf ihren Wangen trocknen und so etwas wie Hoffnung in ihre Augen zurücktritt.
„ Welcher?“, fragt sie neugierig. Ihr ganzer Körper bebt vor Spannung.
„ Asha. Das bedeutet Hoffnung.“
Sie lässt den Namen auf sich wirken und atmet tief ein und aus, dann spricht sie in selbst aus, ganz vorsichtig, so als wäre er etwas Heiliges, das nicht beschmutzt werden darf. „Asha.“
Als ich Ashas Zimmer verlasse, erwartet mich A350 bereits vor der Tür. Ich hatte sie völlig vergessen, doch zu meiner Überraschung ist sie weder genervt noch ungeduldig, sondern schlicht in Sorge.
„ Wie geht es ihr?“
„ Besser. Sie hat mit mir gesprochen, aber sie wollte mir nicht erzählen, was passiert ist. Weißt du etwas?“
„ Nein, leider nicht. Ich habe sie mit aufgeschnittenen Pulsadern in ihrem Zimmer gefunden.“
„ Ist so etwas schon einmal passiert?“
„ Nein, noch nie. Die Menschen in der Sicherheitszone kämen nicht einmal auf die Idee, so etwas zu tun. Ihr Leben besteht darin, die ihnen zugeteilte Aufgabe zu erfüllen. Sie würden das niemals verweigern.“
Obwohl es mir nicht gefällt, dass sie behauptet, dass ein Leben nur der Erfüllung einer Aufgabe dienen soll, muss ich ihr zustimmen. Auch ich wäre niemals auf die Idee gekommen, mich selbst zu töten. Weder vor noch nach der Entführung.
Doch A350 zögert. Ich sehe es an ihrem Gesicht. Es gibt noch etwas, dass ich nicht weiß. „Verheimlichst du mir etwas?“
Sie schüttelt nachgiebig den Kopf. „Nein, ich möchte ehrlich zu dir sein. Aber du darfst mit niemandem darüber sprechen. Es ist wichtig, dass es unter uns bleibt, solange wir nicht die Ursache dafür geklärt haben. Auch dem Arzt, der sie operiert hat, habe ich Stillschweigen befohlen.“
„ Ich verspreche es. Was ist es?“, erwidere ich sofort.
A350 blickt prüfend den Gang auf und ab, um zu sehen, ob wirklich niemand außer uns da ist. Dann beugt sie sich zu meinem Ohr vor und flüstert: „D560 war schwanger.“
Ich reiße entsetzt die Augen auf. „Wie ist das möglich? Es ist keine Paarungszeit!“
A350 nickt. „Der Fötus ist letzte Nacht bei ihrem Selbstmordversuch gestorben. Sie war erst etwa in der achten Woche schwanger.“
Normalerweise würde mich jeder Tod traurig stimmen, doch nicht in diesem Fall. Ich bin sicher, Asha hätte das Kind nicht gewollt.
„ Von wem war sie schwanger?“
„ Das gilt es nun herauszufinden.“
Da Asha die nächsten beiden Nächte noch auf der Krankenstation verbringen wird, möchte ich die Zeit nutzen, um Finn noch einmal zu besuchen. Denn wenn Asha zurück ist, will ich für sie da sein. Natürlich kann ich sie nicht vierundzwanzig Stunden lang betreuen, aber zumindest die Nächte werde ich sie nicht mehr alleine lassen. So gesehen werden meine Chancen, Finn zu sehen, recht gering sein. Deshalb hoffe ich, dass A566 heute in seinem Zimmer ist. Doch ich muss ihn
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