Radioactive (Die Vergessenen) (German Edition)
Manchmal klagt auch ein Wolf dem Mond sein Leid.“ An dieser Stelle ende ich, weil ich daran denken muss, dass D560 es wohl genau wie der Wolf täte, wenn sie könnte.
Doch plötzlich berühren ihre Fingerspitzen ganz sachte meine Hand. „Hör nicht auf“, bittet sie flüsternd mit geschlossenen Augen.
Ich bin erleichtert darüber, dass sie wach ist, und schließe nun ebenfalls meine Augen, um mich besser erinnern zu können.
„ Mitten in dem Wald gibt es einen kleinen See. Ganz früh am Morgen, wenn die Sonne gerade erst aufgeht, liegt Nebel über der Oberfläche. Wenn der Wind durch den Nebel weht, sieht es aus, als würden fremde Wesen über das Wasser tanzen, wie in einem Märchen. Sobald der Nebel sich lichtet, kann man sehen, wie klar das Wasser ist. Über Nacht hat sich der ganze Schlamm am Boden abgesetzt, sodass man bis auf den Grund blicken kann. Das Wasser ist jedoch auch eiskalt. Es kostet Überwindung, sich trotzdem hineinzutrauen. Doch man wird es nicht bereuen. Denn nach einem Bad am Morgen fühlt man sich wie neugeboren. Es wäscht allen Kummer von einem ab und lässt einen die Probleme klarer sehen.“
Ihre Finger tasten sich etwas näher an meine Hand, sodass sie mich nicht nur berühren, sondern auf meiner Haut ruhen. „Ich wünschte, ich könnte jetzt auch ein Bad in dem See nehmen“, flüstert D560 und ich sehe, wie Tränen unter ihren geschlossenen Augen hervorquellen.
„ Soll ich aufhören?“
„ Nein, bitte erzähl weiter.“
„ Am Mittag ist es am wärmsten am See. Die Sonne steht zu diesem Zeitpunkt an ihrem höchsten Punkt. Wenn man nicht aufpasst, holt man sich dann leicht einen Sonnenbrand. Das ist wirklich eine grausame Angelegenheit. Dabei schält sich die eigene Haut vom Körper ab. Am Anfang tut es weh und später juckt es sogar. Aber unter der verbrannten Haut wächst neue, wie bei einer Schlange, die ihre Haut abwirft. Aber nach dem ersten Sonnenbrand gewöhnt sich die Haut langsam an die Sonne und beginnt, sich zu verändern. Sie zieht Farbe in sich auf, wie ein Schwamm Wasser. Die Haut bekommt dann einen goldenen Glanz und wird ganz warm.“
Als ich von Wärme spreche, tritt für einen kurzen Moment ein kleines Lächeln auf ihre Lippen. „Und was ist am Abend?“
„ Am Abend ist das Wasser des Sees am wärmsten, aber auch am aufgewühltesten. Während es am Morgen so klar war, dass man bis auf den Grund schauen konnte, und es bläulich schimmerte, ist es am Abend schlammigbraun. Dafür quaken dann aber auch die Frösche und Kröten am lautesten. Sie sitzen versteckt im Schilf rund um den See und singen ein Lied, das nur sie selbst verstehen. In den Gräsern, die am Ufer des Sees wachsen, stimmen dann an warmen Tagen die Grillen mit ein. Sie zirpen, als trüge jede von ihnen eine kleine Geige in den zarten Beinen. Ihr Spiel ist so laut, dass man es selbst aus mehreren Metern Entfernung noch hören kann. Es erfüllt die ganze Luft und überdauert selbst den Sonnenuntergang.“
D560 öffnet die Augen und sieht mich erschöpft an, doch das Lächeln auf ihren gesprungenen Lippen ist geblieben. „Wenn man dir zuhört und dabei die Augen schließt, kann man alles vor sich sehen, so als wäre man selbst dabei gewesen. Ich wünschte, ich könnte das alles einmal mit eigenen Augen sehen.“
„ Das wirst du eines Tages. Du musst nur Geduld haben“, versichere ich ihr. Doch D560 schüttelt traurig den Kopf.
„ Daran glaube ich nicht mehr. Mein Leben ist, wie es ist, und wird auch immer so bleiben. Es gibt nichts, was ich dagegen tun kann, außer es zu beenden. Aber selbst das schaffe ich nicht.“ Erneut quellen Tränen aus ihren rot geäderten Augen. Sie schnappt nach Luft, um sich zu beruhigen, aber stattdessen beginnen ihre Lippen zu zittern.
Ich ergreife ihre Hand, deren Finger nach wie vor auf meiner Haut ruhen. Zu meinem Erstaunen zieht D560 sie nicht zurück. „So darfst du nicht denken. Ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, um dir zu helfen. Wenn du willst, kannst du auch bei mir einziehen.“
Überrascht starrt sie mich an. „Wirklich?“ Ich höre die Hoffnung, die dabei in ihrer Stimme liegt.
„ Ja, ich würde mich freuen. Ich mag dich und ich will nicht, dass es dir schlecht geht. Sag mir, was passiert ist. Ich kann dir helfen!“
Panik tritt in ihre Augen und sie schüttelt unwillig den Kopf. „Ich kann nicht!“
„ Warum nicht? Was macht dir solche Angst?“
„ Ich will nicht darüber reden. Ich will eigentlich nicht einmal daran
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