Radioactive -Die Verstossenen
Wald. Sie sind alle gestorben. Abgeknallt wie Zielscheiben.
Eine Frau rennt durch die Straßen einer verwahrlosten Stadt. Es sind nicht die beeindruckenden Hochhäuser aus den Bildern des Atriums, sondern kleine Häuser, deren Putz bereits von den Wänden auf die Pflastersteine fällt. Immer wieder dreht die Frau sich in Panik um. Sie schreit um Hilfe, doch niemand kommt. Schließlich stürzt sie in ein Loch im Asphalt und schlägt der Länge nach zu Boden. Sie rappelt sich sofort wieder auf, aber da ist es bereits zu spät. Ein Mann steht vor ihr in Uniform. Seine Gesichtszüge sind wie erstarrt. Er presst der Frau eine Waffe an den Schädel und zwingt sie, ihre Kleider abzustreifen. Als sie nackt und weinend vor ihm steht, fleht sie um ihr Leben. Doch der Mann knöpft sich seine grüne Militärhose auf und drückt die Frau gegen die Wand. Ich kann nicht dabei zusehen, was er ihr antut, und wende erneut meinen Blick ab. D523 ist ganz bleich im Gesicht. Sie presst ihre Hand auf ihre Brust und atmet tief ein und aus, während sie überall hinblickt, nur nicht auf die Mitte der Arena. Die qualvollen Schreie der Frau hallen mir in den Ohren und ich bin sicher, dass ich sie niemals vergessen werde können.
Als der Soldat mit ihr fertig ist, tötet er sie mit einem Schuss in den Bauch. Doch sie stirbt nicht sofort, sondern erliegt ihren Schmerzen, einsam und verlassen. Es ist niemand da, der ihr Trost spendet oder eine Hoffnung auf den Himmel gibt.
Die Dokumentation ist die reinste Qual. Immer wenn ich denke, dass es nicht schlimmer werden kann, kommt es noch heftiger. Wir sehen missbrauchte Kinder, Menschen, die bei lebendigem Leib verbrennen, jegliche Art von Folter, zahllose Leichen. Der Film dauert zwei Stunden, die sich wie eine Ewigkeit dahinziehen. Am Ende spricht einer der Legionsführer zu uns.
„Der Dritte Weltkrieg ist eine Schreckenstat ohnegleichen. Der Mensch selbst ist sein größter Feind. Nie wieder darf so etwas passieren. Nie wieder dürfen Menschen so etwas einander antun. Nie wieder Missbrauch, Folter, Vergewaltigung. Nie wieder Mord.“
Seine Stimme ist so laut und voll, dass sie von den Wänden der Arena wie ein Echo hallt. Er hat Recht und ich nicke, wie viele andere.
„Wir sind die Legion. Unsere Ordnung schützt das letzte Leben.“
Begeistert beginnen wir zu applaudieren. Wann auch immer ich Zweifel hatte, sind sie spätestens jetzt erloschen. Die Erde war ein schrecklicher Ort. Ein Ort ohne Gesetze.
Langsam gewöhne ich mich an meine Arbeit. Sie ist nicht gerade spannend oder ereignisreich, wahrscheinlich sogar unnötig. Das Programm würde das Essen auch ohne meine Kontrolle richtig verteilen. Fehler sind ausgeschlossen. Trotzdem beginne ich etwas Positives in meiner Zuordnung zu sehen. Durch die Essensverteilung lerne ich jeden Tag neue Bewohner der Sicherheitszone kennen. Personen, die ich sonst wahrscheinlich nie getroffen hätte. Ich erfahre Dinge über sie, die ihnen selbst wahrscheinlich kaum bewusst sein dürften. B269 zum Beispiel fährt jedes Mal, wenn er auf sein Essen wartet , mit seinen linken Zeigefinger um seinen rechten Ringfinger. D375 glaubt , wir würden die Bewohner, deren Essen wir bereits kontrolliert haben , nicht wiedererkennen, weil es so viele Menschen in der Sicherheitszone gibt und man ein Genie sein müsste, um sich die Bezeichnungen alle merken und zuordnen zu können. Aber das stimmt nicht. Gerade diese winzigen Eigenarten, die uns voneinander unterscheiden, helfen dabei. Ein kleines Mädchen , F701 , tippt sich immer auf die Lippe , während sie wartet. C515 zieht seine Unterlippe hingegen immer zwischen seine Zähne, sodass man seinen abgebrochenen Schneidezahn sehen kann. Ich habe darüber nachgedacht, was D523 mir vorgeworfen hat, bin aber bisher zu keinem Ergebnis gekommen. Es stimmt, ich freue mich immer, wenn C515 meiner Kontrolle zugeteilt wird. Ich beobachte ihn gerne und es macht mich glücklich , ihn gesund zu sehen. Aber genauso gerne schaue ich F705 oder B269 zu. Allgemein freue ich mich immer, wenn ich einen Bewohner wiedererkenne.
Die ganze Überlegung hat mich erst darauf gebracht, dass ich D523 selbst nie vor den Leistungstests gesehen habe. Ich bin mir sicher, dass ich mich an sie erinnern würde. Ihr Pigmentfleck unter dem linken Auge ist doch recht auffällig. Wir entstammen derselben Generation, so wie C515 auch. Eine Generation besteht aus 99 Menschen, die alle gemeinsam aufwachsen. Erst nach der Zuordnung trennen sich unsere Wege.
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