Radioactive -Die Verstossenen
„Hoffentlich schlafe ich ganz schnell ein. Gute Nacht, Cleo.“
„Gute Nacht, Schwesterchen.“
Einer fehlt. Sonst sagt Iris immer auch noch Finn ‚Gute Nacht’, doch er ist nicht da. Bisher war er jede Nacht da und ich habe mich danach gesehnt, dass er verschwindet. Jetzt sehne ich mich danach, dass er hier wäre. Verdammt! Warum bedeutet es mir nur so viel , was er von mir hält? Er kann mich nicht einmal gut leiden. Er wird mich niemals mögen, das hat er selbst gesagt , und das war in einem seiner netten Momente. Er sollte mir egal sein. Doch die Tränen in meinen Augen und der Kloß in meinem Hals widersprechen dem energisch. Nur mühsam kann ich ein Schluchzen unterdrücken, stattdessen lasse ich die Tränen lautlos meine Wange hinab auf das Kopfkissen tropfen.
Es scheint Ewigkeiten gedauert zu haben , bis ich in einen traumlosen Schlaf gesunken bin. Jetzt fühle ich mich wie gerädert und mein Nacken knackt auf unangenehme Weise, als ich mich strecke. Die Sonne steht bereits hell am Himmel und die Vögel zwitschern ihr Morgenlied. Doch heute kann ich mich dafür nur wenig begeistern. Ich weiß nicht mehr , was ich denken oder fühlen soll. Alles steht Kopf. Finn, die anderen, die Sicherheitszone, nichts ist gewiss.
Iris scheint schon wach zu sein, denn ihre Hälfte der Matratze ist verlassen.
Als ich den Flur betrete, überkommt mich eine neue Flut der Enttäuschung. Finn ist nicht da. Natürlich nicht, warum habe ich nur etwas anderes erwartet? Jetzt , wo wir „Waffenstillstand“ vereinbart haben, gibt es keinen Grund für ihn , mich weiter zu bewachen.
Aus der Küche steigt mir der Duft von frischgebackenem Brot in die Nase. Ein Geruch, der mir sonst das Wasser im Mund zusammen laufen hätte lassen. Heute nehme ich ihn nur mit einem Schulterzucken zur Kenntnis. Ich bin froh , als ich Marie alleine an dem großen Küchentisch sitzen sehe.
„Guten Morgen, Cleo.“, sagt sie freundlich, bevor ich mich bemerkbar machen kann. Wie macht sie das nur?
„Guten Morgen. Woher wusstest du, dass ich es bin?“
Ich setze mich ihr gegenüber und nehme mir eine Scheibe von dem noch warmen Brot.
„Ich erkenne deinen Schritt. Er ist leichtfüßig wie der einer Ballerina, aber so gezielt wie der eines Soldaten .“
Gedankenverloren zupfe ich das Brot in kleine Stücke und stecke mir eins nach dem anderen in den Mund. Mechanisch beginnen meine Zähne zu kauen.
„Du bist traurig.“ Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung. „Warum?“
„Ich weiß es nicht. Es ist einfach so ein Gefühl.“, wehre ich ab und frage mich gleichzeitig , ob ich ihr von Finns Worten erzählen soll. Weiß sie überhaupt von dem Plan , mich zurück in die Sicherheitszone zu schicken? Ich weiß nicht , inwieweit sie Marie mit in ihre Pläne einbeziehen. Sie hält sich die meiste Zeit im Hintergrund und hört mehr zu, als zu sprechen. Gerade das mag ich an ihr.
„Jedes Gefühl hat eine Ursache. Hör in dich rein, dann wirst du schneller fündig , als du denkst.“
Unbeabsichtigt dringt ein leiser Seufzer aus meiner Kehle. Gezielt legt Marie ihre faltige Hand auf meine und beginnt sie sanft zu tätscheln. „Das Gefühl kenne ich.“
Verwirrt legt sich meine Stirn in Falten. „Was für ein Gefühl?“
„Liebeskummer. Es muss schwer für dich sein , mit so vielen Gefühlen auf einmal umzugehen.“
„Ich habe keinen Liebeskummer!“, rufe ich entrüstet aus und entziehe ihr meine Hand.
Marie bleibt erstaunlich gelassen und lächelt mir nur beschwichtigend zu. „Nicht? Dann habe ich mich wohl getäuscht. Das passiert schon mal, ich bin nur eine alte, blinde Frau.“
Sofort bereue ich meine harten Worte und sehne mir ihre tröstenden, warmen Hände zurück. „Es ist wegen Finn.“
„Dachte ich es mir doch.“, gibt sie lächelnd zurück und versteht meine Worte vollkommen falsch.
„Nein, nicht so , wie du denkst. Es geht darum, was er mir erzählt hat.“
„Was hat er dir denn erzählt?“, hakt sie geduldig nach.
„Er sagt , ihr wollt mich zurück in die Sicherheitszone schicken, um für euch die Legion auszuspionieren. Wusstest du davon?“
„Ja, aber warum fragst du nicht , ob es überhaupt stimmt?“
„Finn würde nicht lügen.“, stoße ich wie selbstverständlich aus.
„Nein, das würde er nicht.“, stimmt sie mir lächelnd zu. „Was stört dich daran? Willst du nicht zurück in die Sicherheitszone oder willst du nicht spionieren? Ich könnte das verstehen, die Legion ist die einzige Familie,
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