Raecher des Herzens
dem Brief, den er schrieb, bevor er aus dem Leben schied. Viele Namen und Taten sind darin festgehalten. Was soll man nun von einem Mann halten, der den Titel, den er trägt, seinen toten Angehörigen entrissen hat und sich außerdem wie ein wahrer Bastard benimmt?«
Offenbar kannte Pasquale Rios Geschichte, wusste von dem gestohlenen Titel und dem gestohlenen Besitz. An diesen Gedanken musste sich Rio erst gewöhnen. Er sah, wie der Graf ihn aus hasserfüllten Augen anstarrte. Offenbar hatte der spanische Adelige ihn längst erkannt, wusste, wen er vor sich hatte und vor allem, wer sein Gegenüber früher einmal gewesen war. Wie der Graf das herausbekommen hatte, war Rio ein Rätsel, aber es erklärte einiges. Der Mann wollte ihn sicher nicht allein aus Angst um seine Heiratspläne aus dem Weg schaffen lassen.
»Leeres Gewäsch!«, schrie der Graf. Er war blass geworden. Tiefrot zeichneten sich die noch kaum verheilten Kratzer von Celinas Fingernägeln auf seinem Gesicht ab.
»Beweisen Sie es«, sagte Rio kalt. Er stellte sich neben Pasquale. »Beweisen Sie hier auf dem Kampfplatz, dass Sie kein Feigling sind, dass Sie den Degen selbst zu führen vermögen und es nicht nötig haben, andere dafür zu bezahlen.«
Pasquale nickte zustimmend. »Genau. Und tun Sie es jetzt gleich, wenn Sie es wagen.«
Das war zu viel für den Grafen. Stocksteif stand er da und starrte die beiden Fechtmeister an. Dass er keine Ehre hatte, die es zu verteidigen lohnte, hätte man ihm in New Orleans vielleicht nachgesehen. Hier konnte selbst ein skrupelloser Bandit zu gesellschaftlichem Ansehen kommen. Aber seine Feigheit würde man dem Grafen niemals verzeihen. Für die Bürger der Stadt war er so gut wie tot.
Erst wandten sich nur ein paar Männer ab und begannen mit ihren Nachbarn zu tuscheln, doch bald bildeten sich überall Gruppen, in denen aufgeregt diskutiert wurde. Ein Mann spuckte auf den Boden, und im Handumdrehen stand der Graf ganz allein da.
Von nun an würde man ihn schneiden. Seine Zeit in der Stadt war abgelaufen, er war erledigt und wusste es auch.
Wütend griff er nach seinem Stock, zog sich den Hut ins Gesicht und machte sich auf den Weg zu seiner Kutsche. Mit steifen Schritten und grimmiger Miene ging er davon.
Rio beobachtete ihn misstrauisch. »Ich denke ...«, begann er.
»Ich auch, mein Freund.«
Rio und Pasquale verständigten sich mit einem kur-zen Blick, dann rannten sie der sich entfernenden Gestalt hinterher.
Alarmiert durch das Geräusch ihrer Schritte blickte sich der Graf um. Er warf seinen Stock beiseite und begann zu laufen. Die stämmigen Beine wirbelten, die Arme schlenkerten an seinen Seiten. Viel schneller, als man es einem Mann von seiner Körperfülle zugetraut hätte, legte er den Weg zu den Kutschen zurück. Anfangs sah es so aus, als steure er auf sein eigenes protziges Gefährt zu. Doch im letzten Augenblick schwenkte er um zu der Mietdroschke, die der Fahrstraße am nächsten stand.
Rio verdoppelte seine Anstrengungen.
»Was hat er vor?«, rief Pasquale, der sich dicht an Rios Seite hielt.
»In der Kutsche sitzt Mademoiselle Vallier.«
»Wenn er ihr etwas antut ...«
Rio warf dem Italiener einen finsteren Blick zu. »Oder wenn er sie kompromittiert ...«
Mehr mussten die beiden Männer nicht sagen. Der Ruf der jungen Dame war bereits geschädigt, und der eine oder andere betrachtete eine Heirat, ganz gleich mit wem, unter diesen Umständen sicherlich als einzige Möglichkeit, den guten Namen der Familie noch zu retten. Außerdem wussten Rio und Pasquale nur zu genau, wozu der Graf fähig war, wenn es für ihn brenzlig wurde. Sie konnten sich durchaus vorstellen, dass er Celina aus schierer Wut umbrachte - oder auch nur, damit kein anderer sie bekam.
Sie stürzten vorwärts. Die Fechter waren durchtrainiert und nur halb so alt wie der Graf. Nur noch ein paar Schritte, und sie hätten ihn eingeholt.
Doch da blieb der Graf überraschend stehen und schob eine fette Hand in seine Westentasche. Mit einer kleinen Pistole bewaffnet, drehte er sich zu seinen Verfolgern um. Seine Hand und sein Arm zitterten, sein Gesicht war feuerrot und sein Atem kam stoßweiße und pfeifend. Doch die Stimme des Grafen glich dem Knurren eines in die Enge getriebenen Tieres, als er nun rief: »Halt! Bleibt stehen, oder einer von euch wird sterben.«
Rio und Pasquale stemmten die Beine in den Boden. Einen Augenblick lang standen die drei Männer einander so unbeweglich gegenüber, als hätte ein Maler
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