Raecher des Herzens
breiten Stufen hinab.
Fast gegen seinen Willen erlaubte sich Rio einen einzigen hastigen Schritt in ihre Richtung und stand so einen Augenblick lang im gleißenden Mondlicht. Im selben Moment knirschten die weißen Muschelschalen auf dem Pfad unter den Schritten der Tante. Eine zweite Frau begleitete sie. Sie war recht hager, wirkte aber in ihrem Kleid aus steifem Brokat dennoch überaus elegant. Ihr silbergraues Haar hatte sie mit einem reich verzierten Kamm hoch aufgesteckt und mit einer elfenbeinfarbenen Mantille bedeckt.
»Mon Dieu!«
Die Dame erstarrte und griff sich an die Kehle. Auf ihren Zügen spiegelte sich eine Mischung aus Schreck und Erschütterung. Rio nahm an, dass er eine jener empfindsamen Naturen vor sich hatte, die einen Maitre d’Armes für den Teufel persönlich hielten. Dass sich Celina in der dunklen Laube mit einem Degenfechter getroffen hatte, würde ihrem Ruf nicht gerade förderlich sein.
»Komm, Celina«, sagte ihre Tante. »Es ist zu kühl, um ohne Umhang im Garten umherzuspazieren.«
»Ja, du hast Recht«, antwortete Celina. Ohne sich noch einmal umzusehen, gesellte sie sich zu den beiden Frauen. Gemeinsam gingen sie zum Haus zurück.
Rio lauschte, bis ihre knirschenden Schritte auf dem Pfad verklungen waren. Dann rannte er zur Gartenmauer, sprang hinauf und schwang sich behände darüber. Ein heimlicher Beobachter hätte glauben können, er sei auf der Flucht.
Rio fand das Studio verlassen vor. Olivier war offenbar ausgegangen. Feste Arbeitszeiten hatte der Majordomo zwar nicht, aber für gewöhnlich empfing er Rio, wenn dieser zurückkehrte, und verschloss dann eigenhändig alle Fenster und Türen. Erst danach legte er sich selbst zur Ruhe.
Vielleicht machte er einen Besuch bei Suzette. War die Zofe am Abend bei ihrer Herrin gewesen? Rio hatte sie bei der Soiree nicht gesehen. Aber oft hielt sich das Dienstpersonal in der Küche oder in anderen separaten Räumen auf. Möglicherweise hatte sich Suzette auch irgendwo auf dem Anwesen mit Olivier getroffen. Solange ihre Herrin sie gewähren ließ, würde niemand daran Anstoß nehmen.
Nachts allein durch die Straßen zu laufen war für einen freien Farbigen allerdings nicht ganz ungefährlich. Man konnte ihn leicht für einen entflohenen Sklaven halten. Außerdem lauerten überall Räuber und Diebe, und gelegentlich hörte man auch von grundlosen Übergriffen auf dunkelhäutige Menschen. Nach kurzem Zögern trat Rio mit Hut, Handschuhen und Degen noch einmal in die Nacht hinaus.
Rio fand seinen Majordomo an keinem der Orte, an denen er ihn vermutet hatte. Auch bei der Soiree war er offensichtlich nicht gewesen. Ein Spaziergang zum Stadthaus der Valliers erwies sich da schon als aufschlussreicher. Ein Stallbursche, den Rio auf zehn oder elf Jahre schätzte, hockte vor dem Haus auf dem Gehsteig und sog an einer Maispfeife. Er wartete auf die Rückkehr der Familienkutsche.' Von ihm erfuhr Rio, dass Olivier bei Suzette gewesen war, sich dann aber auf den Heimweg gemacht hatte, weil er zu Hause sein wollte, wenn sein Herr zurückkam.
Geschickt fing der Knabe die Münze auf, die Rio ihm zu warf. Rio trat nachdenklich den Nachhauseweg an. Normalerweise schlenderte er gern durch die Straßen, die im schummrigen Licht der Gaslaternen lagen. In den ärmeren Vierteln speiste Walöl die Funzeln, die auf schmiedeeisernen Pfosten saßen. Der Flussnebel, der sich einen Weg durch die engen Gassen suchte, ließ die Stadt noch geheimnisvoller und verruchter erscheinen als sonst. Rio gefiel die fast ein wenig unheimliche nächtliche Stimmung genauso wie der Gedanke, dass Handel und Arbeit nun ruhten, dass jeder, der nicht schlief, sich zu dieser Stunde dem Vergnügen oder gar dem Laster hingab. Deutlich weniger Menschen als tagsüber bevölkerten die Straßen und Gehwege. Man bewegte sich leiser und langsamer als bei Tage, war nicht gezwungen, sich unendlich oft zu verbeugen oder den Hut zu ziehen, denn auch die gesellschaftliche Etikette ruhte für ein paar Stunden. Dabei waren die Gassen alles andere als menschenleer. Männer wanderten von einer Bar zur nächsten, kamen aus den Kabaretts und Spielhallen, kehrten von Bällen oder Soirees zurück. Gelegentlich holperte eine Kutsche über das Pflaster, von flackernden Laternen an den Seiten beinahe unirdisch beleuchtet. Aber bald würde es endgültig ruhig werden. Zwar mochte der eine oder andere private Ball erst in den frühen Morgenstunden zu Ende sein, doch die meisten Gäste hielten es nur bis
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