Raecher des Herzens
schweigend zu. »Vielleicht ist ihm wirklich etwas zugestoßen. Andererseits könnte ich mir durchaus auch vorstellen, dass er zu einer Bullenhatz oder zu einem Hahnenkampf aufs Land gefahren ist und quietschvergnügt seinen Leidenschaften frönt.«
»Ohne seiner Familie eine Nachricht zu hinterlassen?«
»Nun ja. Vielleicht ist er ja auch dem Charme einer Quadroone verfallen, oder den Reizen einer der Frauen, die in bestimmten Straßen an den Fenstern sitzen. Davon würde ein junger Mann aus gutem Hause den Damen der Familie sicher nicht berichten.«
»Aber selbst in diesem Fall müsste irgendjemand Bescheid wissen - ein Freund oder auch sein Vater.«
Olivier ging durch das Zimmer, rückte hier und da einen Gegenstand zurecht und zog die Vorhänge auf. Er warf Rio einen viel sagenden Blick zu, doch sein Herr schenkte ihm keine Beachtung.
»Das stimmt«, sagte Caid.
»Mir gefällt die Sache nicht. Und wenn wir noch länger darauf warten, dass Vallier von selbst wieder auftaucht, könnte es zu spät sein.«
»Aber wo sollen wir mit der Suche beginnen?«
Olivier räusperte sich. »Darf ich vielleicht einen Vorschlag machen?«
Rio wusste nicht, ob er den Vorschlag hören wollte. Dennoch hob er fragend eine Augenbraue.
»Man könnte Erkundigungen unter jenen anstellen,
die in den weniger respektablen Etablissements der Stadt arbeiten, und in den Häusern, wo die Damen an den Fenstern sitzen.«
Hinter Oliviers Worten verbarg sich der Vorschlag, das gut funktionierende Nachrichtensystem der Sklaven zu benutzen. Wer Klatsch, Tratsch und alle Arten von Neuigkeiten erfahren wollte, musste sich mit den Sklaven gut stellen. Unter ihnen verbreiteten sich Nachrichten schneller, als ein Mann laufen konnte. Wenn ein junger Herr aus gutem Hause in den Armen einer wenig tugendhaften Dame die Zeit vergessen hatte, so gab es mit Sicherheit einen Diener, der davon wusste.
»Diese Aufgabe lege ich genau wie die Besorgung des Weins vertrauensvoll in deine Hände«, sagte Rio mit einem kurzen Nicken. »Caid und ich nehmen uns in der Zwischenzeit die Docks vor.«
Caid hob eine Augenbraue. »Vor oder nach den Spielhallen?«
»Dort haben schon andere nach ihm gesucht. Für uns hat man die interessanteren Viertel übrig gelassen.«
»Dann wartet viel Arbeit auf uns. Sollen wir Gilbert und Bastile um Hilfe bitten?«
»Gute Idee. Glaubst du, sie haben Zeit?«
»Sie wären verärgert, wenn wir sie nicht wenigstens fragen.«
»Gut. Du könntest sie gleich wecken gehen, während ich mich fertig mache.«
Caid war einverstanden und machte sich auf den Weg. Olivier half Rio in graue Hosen, eine Weste aus grauer Merinowolle mit schwarzen Stickereien und in
schwarze Stiefel aus spanischem Leder. Er band seinem Herrn die Krawatte mit einem einfachen Knoten und zog ihm vorsichtig einen schwarzen Gehrock mit einem Samtkragen und grauen Knöpfen aus echten Perlen an. Dann reichte er ihm den Degen. Einen Augenblick lang wischte er überflüssigerweise mit dem Ärmel an Rios Hut herum.
»Sie werden doch auf sich Acht geben?«, fragte Olivier schließlich.
Rio warf ihm einen amüsierten Blick zu. »Machst du dir etwa Sorgen, Mama?«
»Sie sind nicht im Vollbesitz Ihrer Kräfte.«
»Ich weiß. Aber der sicherste Weg, Raubtiere anzulocken, ist, sie Blut riechen zu lassen.«
»Deshalb wollen Sie so tun, als fehle Ihnen nichts. Aber was ist, wenn man Sie herausfordert?«
»Dann werde ich kämpfen.«
Olivier schüttelte den Kopf. »Das können Sie nicht.«
»Ich muss es tun. Sonst ist hier alles aus für mich. Hoffen wir, dass es nicht so weit kommt.«
»Die Hoffnung kostet nichts und kann Sie trotzdem teuer zu stehen kommen.«
»Bedeutungsvolle Worte«, sagte Rio. Dabei setzte er sich den Hut auf.
»Ein Spieler mag auf das Glück hoffen und dabei alles verlieren. Ein Mann mag hoffen, am Leben zu bleiben, und muss doch feststellen, dass andere ihn lieber tot sehen würden.«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Rio. Er drückte Oliviers Schulter. »Wenn es zum Äußersten kommt, werde ich dich Caid empfehlen. Du kannst immer noch als
F aineant in sein Studio gehen, wenn es meines nicht mehr gibt.«
»Als ob ich das täte!«
»Das war auch nicht ernst gemeint«, sagte Rio. Als F aineant bezeichnete man einen männlichen Verwandten, der sich bei Freunden und Verwandten durchschmarotzte, ohne je eine Hand zu ehrlicher Arbeit zu rühren.
»Ich sorge mich nicht um ...«
»Ich weiß«, sagte Rio. »Und ich danke dir dafür.« Rio
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