Rächerin der Engel
inzwischen was gegessen? Du kannst doch nicht sechs Stunden nur hier rumgesessen haben!«
Hatte sie das ? Schon möglich. Bree ließ die Hände in den Schoß sinken. »Ich habe über meinen neuen Klienten nachgedacht.«
»Das ist wirklich toll , dass du jetzt Tully O’Rourkes Rechtsvertreterin bist.«
Bree erwiderte nichts. Über Tully O’Rourke hatte sie nicht nachgedacht. Sie hatte über Russell O’Rourkes knochendürre Hand nachgedacht, die sich aus weiß Gott welchen Tiefen nach ihr ausgestreckt hatte. Aus der Hölle wahrscheinlich, wenn man bedachte, was die Medien über ihn berichteten, und zwar aus einem Bereich, der dem Zentrum der Dunklen Sphäre sehr nahe sein musste. Ihre Berufungsklienten waren alle in einem der neun Kreise des höllischen Jenseits untergebracht; diejenigen, die in der Vorhölle saßen, büßten dort für geringfügigere Sünden und mussten nicht ganz so schwer leiden. Habgier, Betrug und Diebstahl zogen zweifellos schreckliche Strafen nach sich. Obwohl man ihm, wenn sie es recht bedachte, lediglich hatte nachweisen können, dass er die Finanzaufsichtsbehörde angelogen hatte. Durch seinen Tod waren weitere Untersuchungen unterbunden worden.
Doch die erbarmungswürdige Verzweiflung, die diese schemenhafte Knochenhand zum Ausdruck gebracht hatte, wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf. Und das führte dazu, dass sie erneut jene unzähligen Fragen überdachte, die ihr zu ihrer Tätigkeit als Rechtsanwältin und zur Hinterlassenschaft ihres Großonkels einfielen. Dann war da der beunruhigende Besuch der gegnerischen Anwälte, ihre Schlafprobleme, die immer wiederkehrenden nächtlichen Träume von Tod und noch schlimmeren Dingen.
Mit leichtem Unbehagen wurde ihr klar, dass sie in der Tat sechs Stunden im Dunkeln gesessen hatte.
Von Ruhelosigkeit gepackt, stand sie auf und ging zum Kamin. Das Haus der Familie war vor dem Bürgerkrieg erbaut worden, zu einer Zeit, als auf dem Savannah reger Schiffsverkehr geherrscht hatte und vom Hafen aus Baumwolle nach Europa und Hanf zu den Spinnereien im Norden verschifft worden war. Die untere Hälfte des Hauses hatte die Büros der angrenzenden Lagerhäuser beherbergt, während sich im oberen Teil der Wohnbereich befunden hatte. Seit 1813 lebten hier Winston-Beauforts, und sie alle hatten sich an ebendiesem Kamin gewärmt. Die Ziegel, der Kaminsims und der schmiedeeiserne Rost hatten einen großen Teil der Familiengeschichte miterlebt. Während Bree mit dem Daumen über den Sims aus Kiefernholz fuhr, blickte sie in den kunstvoll gearbeiteten Spiegel, der über dem Kamin hing.
Und nahm in den Tiefen des Spiegels Schatten wahr, die sich bewegten. Sie hob die Arme und legte die Hände flach auf die kalte Fläche des Spiegels, die schwach zu pulsieren schien, so als atme sie.
Antonias Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Ich habe gesagt, wo ist denn Sascha?«
Es kostete Bree einige Mühe, in die Gegenwart zurückzufinden. Sie drehte sich um. »Entschuldigung. Er liegt doch dort drüben und schläft.«
»Nein, das tut er nicht.«
»Aber ja doch«, erwiderte Bree. »Direkt neben dem Schaukelstuhl.«
»Wo denn?« Die Hände auf die Knie gestützt, beugte sich Antonia vor. »Oh«, sagte sie kleinlaut. »Ist ja komisch. Ich hätte schwören können …« Sie fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht und schüttelte heftig den Kopf. »Ich glaube, ich drehe langsam durch. Er war also die ganze Zeit da? Sascha?« Sie klopfte aufs Sofa. Sascha stand auf und trottete zu ihr. Dann legte er ihr den Kopf in den Schoß und seufzte wohlig, als sie ihm die Ohren kraulte. Die hübsche Mischung aus Golden Retriever und Dogge war das einzige hündische Mitglied von Beaufort & Compagnie.
»Also wirklich, Tonia.« Bree sah ihren Hund vorwurfsvoll an, der leise knurrte, was sie für eine Entschuldigung hielt. Es gab Zeiten, da konnte man Sascha sehen, und Zeiten, da konnte man es nicht. Das gehörte zu den Verhaltensweisen, die die Compagnie in der irdischen Welt an den Tag legte. Im Großen und Ganzen gaben sich Petru, Lavinia, Ron und selbst der herrische, irritierende Gabriel Striker alle Mühe, um unauffällig zu bleiben. Doch manchmal vergaßen sie sich, und dann fingen die Menschen in Brees Umgebung an, unangenehme Fragen zu stellen.
Antonias Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an. »Setz dich, Bree. Ich muss mit dir reden.«
Bree zog eine ihrer Augenbrauen hoch. »Du hörst dich genauso an wie Daddy, wenn er ein ernsthaftes Gespräch führen
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