Rätselhafte Umarmung
Geschäftsbücher des Lindquist-Antiquitätenhandels nur noch bestätigen würden, was sie ohnehin schon wusste .
Sie atmete tief durch, nahm all ihre Entschlusskraft zusammen, wischte den Staub vom Einband des alten Rechnungsbuches und schlug es auf. Auf den ersten Seiten waren die Spalten in der klaren, kräftigen Handschrift ihrer Mutter gefüllt. Käufe und Verkäufe waren sorgfältig und detailliert aufgelistet. Die Zahlensummen stimmten bis auf den letzten Penny.
Rachel schämte sich ein bisschen , weil sie die Ergebnisse mit dem Taschenrechner überprüfte. Addie hatte immer so schnell und fehlerfrei wie ein Computer mit dem Kopf gerechnet. Sie hatte von Rachel erwartet, das genauso zu können, und war enttäuscht gewesen, weil Rachel nicht mithalten konnte. Rachel erinnerte sich schmerzlich an die Nächte, in denen sie die Bettdecke über den Kopf gezogen hatte, um das Licht der Taschenlampe zu dämpfen, während sie über ihren Rechentabellen gebrütet hatte, entschlossen, alles zu tun, damit ihre Mutter auf sie stolz war.
Das einzige, was Addie immer an Rachel gefallen hatte, war ihre
Stimme gewesen. Addie war eine fordernde Lehrerin gewesen, hatte sie zum Üben, Üben, Üben gezwungen; hatte jeden noch so kleinen Fehler unnachgiebig korrigiert; hatte jeder Note bewusst gelauscht. Aber wenn Addie irgendwo in einem ihrer Konzerte gesessen hatte, war ein sehnsüchtiger, verzückter Blick in ihre Augen getreten. Stolz und Liebe hatten dann aus ihrem Gesicht geleuchtet. Und jedesmal hatte Addie sich danach wieder wachrütteln müssen wie aus einem Traum und erklärt: »Du hast eine Engelsstimme, Rachel. Ich bin sehr stolz auf dich.«
Rachel schüttelte die bittersüßen Erinnerungen ab. Sie hatte gegen diesen Stolz angekämpft, weil sie gewollt hatte, daß ihre Mutter sie wirklich verstand, und sie hatte ihre Mutter verloren. Das war dumm und töricht gewesen, aber sie war damals ein junges und aufsässiges Mädchen, und sie hatte sich gewünscht, daß ihre Mutter sie um ihretwegen liebte, nicht wegen ihrer Stimme. Sie rieb sich die Schläfen, als sie jetzt darüber nachsann, wie all ihr Zorn auf sie selbst zurückgefallen war, wie all ihre leuchtenden Regenbogen zu einer grauen Masse zusammengeschmolzen waren.
Vielleicht würde Bryan nicht so bereitwillig an Zauberei glauben, wenn er sich ein-oder zweimal der Realität gestellt hätte, dachte sie verbittert.
Ein Verhältnis mit Bryan Hennessy. Der Gedanke ließ sie schaudern, auch wenn sie nicht wirklich einschätzen konnte, ob aus Angst oder aus Spannung. Es war nichts als Entrüstung, urteilte sie schließlich. Der Mann hatte vielleicht Nerven - anzudeuten, daß sie ihm nachgestellt hätte!
Als sie die nächste Seite im Rechnungsbuch aufschlug, bemerkte sie, daß sich die Handschrift allmählich veränderte. Sie wirkte nicht mehr ganz so ordentlich und kräftig. Ein, zwei Zahlen waren gelöscht und überschrieben worden. Das Bild verschlimmerte sich mit jeder Seite, bis Rachel schließlich auf falsch geschriebene Wörter, verdrehte Buchstaben und falsch addierte Zahlen stieß. Und Rachel begriff, daß sie ein Dokument über Addies langsamen Verfall vor sich hatte.
Fast ein Jahr war vergangen, seit der letzte Eintrag im Buch vorgenommen worden war, und die letzte Zahlenreihe war nicht mehr zusammenaddiert worden. Die Seite war verknittert und mit einem großen Kaffeefleck beschmutzt, als hätte sich Addie über ihre eigene Unfähigkeit geärgert und vor lauter Eile, dem geschriebenen Beweis für ihre Krankheit zu entkommen, den Kaffee verschüttet.
Rachel legte das Rechnungsbuch beiseite und schlug das Inventarbuch auf, weil sie wider besseres Wissen hoffte, daß es auf einem aktuelleren Stand war. Aber die Einträge glichen sich. Anfangs waren sie noch logisch und lesbar, wurden aber allmählich so unzusammenhängend, daß sie sich aus dem wenigen, was noch zu entziffern war, keinen Reim machen konnte. Das Buch war kein bisschen aktueller als das Rechnungsbuch, und es war unwahrscheinlich, daß in der Zwischenzeit nichts ge-oder verkauft worden war. Sie würde alles im Haus neu aufnehmen und danach eine Art Flohmarkt organisieren müssen, um den Großteil der Ware loszuwerden.
Sie konnten nur Addies ganz persönlichen Besitz und ein paar Antiquitäten nach San Francisco mitnehmen. Rachel war klar, daß sie sich keine große Wohnung leisten konnten. Sie hätten bestimmt keinen Platz für die mehreren hundert Möbelstücke, die Addie gesammelt
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