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Räuberdatschi: Ein Fall für Anne Loop (Piper Taschenbuch) (German Edition)

Räuberdatschi: Ein Fall für Anne Loop (Piper Taschenbuch) (German Edition)

Titel: Räuberdatschi: Ein Fall für Anne Loop (Piper Taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Steinleitner
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Kulturrevolution. Er empfehle der Kanzlerin dringendst, an den Schulen und in den Behörden und Unternehmen politische Lektionen einzuführen. Auch zu verpflichtender Morgengymnastik rate er mit Nachdruck. Nichts lüfte den Geist so effektiv wie Sport. Des Weiteren empfehle er, auf dem Gipfel der Zugspitze einen Galgen aufzustellen. Deutschland müsse ein Zeichen setzen und die Todesstrafe wieder einführen, alles andere sei zwecklos. Seine energische Rede, die getragen war vom Selbstbewusstsein einer frischgebackenen Supermacht, beendete er mit dem chinesischen Sprichwort: »Wer den Himmel im Wasser sieht, sieht die Fische auf den Bäumen.«
    Die Kanzlerin war so baff, dass sie ihrem Mann, der sich gerade beim Vortragen der aktuellen Kurse des Deutschen Aktienindex verhaspelt hatte, mit den Worten »halt die Klappe, Schnucki« den Mund verbot. Über diese eheliche Entgleisung erschrak der sensible Pressesprecher so sehr, dass ihm die Krawattennadel ins Fußbad fiel.
    Dennoch ließ die Kanzlerin sofort alle Optionen prüfen, sogar die Einführung der Todesstrafe. Zumindest hinter verschlossenen Türen durfte es in der Politik keine Denkverbote geben. Es standen die deutschen Wirtschaftsinteressen in Fernost auf dem Spiel. Dann fasste Deutschlands mächtigste Frau einen Entschluss, der in folgender Aktion mündete: Die Kanzlerin hielt eine ganz persönliche Ansprache an die beiden Anonymous-Verbrecher, die man Jules und Jorina in Form einer DVD – diese multimediale Kommunikationsform erschien der Kanzlerin zeitgemäß und modern – zuspielte.
    Die Rede begann mit den Worten: »Guten Tag, hier spricht die deutsche Bundeskanzlerin.« Diese Erklärung wäre an sich nicht nötig gewesen, denn die Kanzlerin war hinreichend bekannt. Aber sie ging, wie immer, lieber auf Nummer sicher. Dann fuhr sie fort: »Ich sage es Ihnen offen und ehrlich: Ich halte von der Art und Weise, wie Sie Ihre politischen Ziele durchsetzen wollen, nichts. Zwar ist es im Rahmen der Politik durchaus manchmal nötig, symbolisch Köpfe rollen zu lassen, aber das, was Sie da abziehen, ist schon die Höhe. Eben erst hat mich der chinesische Staatspräsident angerufen und für unser Land schreckliche Konsequenzen angedroht. Ich sage es Ihnen ganz ehrlich: Ich habe Migräne und außerdem überhaupt keinen Bock auf einen dritten Weltkrieg. Obwohl ich stinksauer bin, biete ich Ihnen einen offenen Dialog an. Dies allerdings nur unter einer Bedingung: dass Sie die Geiseln freilassen und die Bank kampflos übergeben. Sollten Sie mein Angebot ablehnen, werde ich zu härteren Mitteln greifen. Auf Wiedersehen und servus, wie man da, wo Sie gerade sind, wohl sagt. Und übrigens: In Mecklenburg gibt’s auch schöne Seen.«
    Jorina und Jules fanden die Videobotschaft der Bundeskanzlerin derart unterhaltsam, dass sie sie sofort auf der Anonymous-Bankräuber-Seite online stellten. Binnen einer Stunde wurde sie von einhundertachtzigtausend Menschen angeklickt.
    Die Antwort, die Jules und Jorina kurz darauf ebenfalls im Netz veröffentlichten, ließ sogar Deutschlands ältesten und erfahrensten Nahost-Experten die Stirn runzeln. In dem Film waren die Geiselnehmer Jules und Jorina sowie ihr Unterstützer Dieter Gräber zu sehen, wie sie nackt und mit dem Rücken zur Kamera mit hocherhobenen Armen nebeneinander an einer Wand lehnten. Die Buchstaben, die sie mit rotem Lippenstift auf ihre Rücken geschrieben hatten, ergaben das Wort FUN.
    Das Krisenteam der Bundeskanzlerin kontaktierte daraufhin mehrere Wissenschaftler. Aber erst das Telefonat mit einem Altkommunarden der Achtundsechzigerzeit brachte Klarheit: Nachdem der weißhaarige polygam lebende Meditationskünstler eine üppige finanzielle Aufwandsentschädigung bekommen hatte, teilte er der Kanzlerin mit, dass der Film von den nackten Hintern der Geiselnehmer ganz klar als eine Absage an ihr Dialogangebot zu verstehen sei.
    Hierauf zauderte die Kanzlerin nicht lange. Und so trafen wenig später die ersten gepanzerten Polizeifahrzeuge vor der kleinen Genossenschaftsbank an dem See inmitten von Bergen ein. Die Anonymous-Aktivisten wurden noch weiter Richtung Bahnhof zurückgedrängt, und die aufmarschierenden Truppen der Kanzlerin brachten Wasserwerfer und Tränengaskanonen in Position. Es war eine martialische Zurschaustellung der Macht, wie sie an dem See inmitten von Bergen seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr stattgefunden hatte. »Eine Hündin ist sie scho’«, kommentierte ein Urlauber aus Norddeutschland

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