Räuberleben
manchmal ein trauriges Lied an, und sie alle sangen mit: Winterwind und Winterschnee / bringt den Sinti Leid und Weh. / Frost und Kälte und kein Brot! / Komm, o Lenz, end’ unsre Not.
Sie stahlen trotzdem wenig in dieser Zeit, ein paar Hühner, Brote aus dem Brothaus, ein paar Ellen Tuch. Wer stiehlt denn mehr, fragte der Dad, die großen Herren oder wir? Die Bremin ging allein auf den Markt, kam zurück mit einer Uhr, die sie in einer Mühle gegen Mehl und Salz eintauschte. Die Säcke waren schwer, man musste sie zu den übrigen Bündeln tragen, Onkel Wenzel beklagte sich deswegen. Einen Esel, gar ein Pferd als Lasttier hatten sie nicht, es wäre zu auffällig gewesen. Auf den langen Nachtmärschen versank man bis zu den Knöcheln im Morast, verhakte sich in Wurzeln. Die Füße wurden wund und begannen zu schmerzen. Zigeuner sähen bei Dunkelheit wie die Katzen, sagen die Leute in den Dörfern. Es ist gelogen wie fast alles, was sie über die Sinti erzählen. Wenn weder Mond noch Sterne am Himmel sind, tappt man herum, hält sich an der Schulter des Vordermanns fest, ertastet den Weg mit Händen und Füßen. Dieterle ist froh, dass die Zeit für das Planen von Einbrüchen fehlt. Man hätte ihn wieder vorgeschickt, zu einem Pfarrhaus- oder Judenfenster hochgestemmt, und das mag er nicht. Einmal schoss ein Pfarrherr mit einem Terzerol auf ihn und verfehlte ihn zum Glück. Die anderen rissen den Pfarrherrn zu Boden und fesselten ihn, sie verhörten die weinende Frau und brachten mit Schlägen aus ihr heraus, dass die ersparten Dukaten unter einem lockeren Bodenbrett lagen. Aber Blut war keins geflossen, anders als beim Toni, an den man besonders nachts nicht denken darf, denn sonst ruft man seinen Geist herbei, den Mulo. Wie soll man das Schlimmste, das man je getan hat, aus seinen Nachtgedanken verbannen?
Gegen den Bodensee hin wurde es endlich wärmer, Dieterle aß frischen Bärlauch, eine Handvoll nach der andern, spie das meiste wieder hervor, denn es blähte den Magen. Die alte Geißin, die Baba, hätte dem Enkel, wäre sie dabei gewesen, einen Tee aus verschiedenen Rinden gemacht, sie hätte die entzündeten Zehen, deren Nägel abgebrochen waren, mit einem Kräutersud gepflegt. Wo sich die Baba versteckt, weiß niemand, vielleicht in der Gegend von Nagold, meint der Dad, dort kenne sie sich am besten aus mit Grotten und alten Rastplätzen. Dieterle vermisst sie. Er hat manchmal, wenn sie lange genug an einem Ort bleiben konnten, den Kopf auf ihren Schoß gelegt, sie hat mit den Fingern seinen Nacken geknetet und ihm eines ihrer Märchen erzählt. Am liebsten mag er das Märchen von der schützenden Tanne. Darin befiehlt ein König, alle Zigeuner auszurotten, und ein Sintijunge muss sich darum vor den Schergen des Königs verstecken. Die Eltern des Jungen sind schon tot, er flieht in den großen Wald, und die Schergen haben ihn fast eingeholt. Der Junge stellt sich unter eine Tanne und fleht sie an: Hilf mir, hilf mir! Da senkt die Tanne ihre Äste über den Jungen, so dass er unsichtbar wird wie in einem Dickicht. Die Schergen stehen genau vor ihm und sehen ihn nicht, der König galoppiert herbei und sieht den Jungen auch nicht, da können die Hunde so laut bellen, wie sie wollen. Die Verfolger ziehen ab, der Junge ist gerettet.
Im Mai kamen sie besser voran, blieben aber nach Möglichkeit in den Wäldern. Wohin wollten sie eigentlich? Was war ihr Ziel? In Sicherheit müsse man endlich sein, sagte der Dad, nur das: in Sicherheit. Bastardi, der große Bruder, fieberte eine Zeitlang, er hatte einen Ausschlag, konnte kaum noch atmen, wurde eine Strecke von zweien oder dreien getragen. Sie waren jetzt schon in der Schweiz, weit außerhalb der bekannten Gebiete. Es gab keine Zeichen mehr, die andere Sinti mit Kohle oder Rötel auf Mauern geschrieben hatten. Von Schäffer hatte schon lange niemand mehr etwas gesagt. Einmal gelang es ihnen nicht, einem Trupp angeheiterter Soldaten auszuweichen, aber sie wurden weder drangsaliert noch festgenommen. Der Dad kann beredt und schmeichlerisch sein, wenn er will, er gab sich als geprüfter Jäger aus, wozu sein grüner Rock und die Flinte passten, er erfand einen Grafen Derundjener, in dessen Dienst er sei. Sie lachten über ihn, sie boten ihm Branntwein an und er ihnen die Urschel, mit der sie hinter die Büsche gingen. Dass die Urschel hinterher weinte und ihre Kleine noch mehr, brachte den Dad auf. Jemand habe die Familie retten müssen, schrie er sie an, kein
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