Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Räuberleben

Räuberleben

Titel: Räuberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Hartmann
Vom Netzwerk:
seine Hinterbacken waren wundgerieben. Er entschloss sich, entgegen seiner ursprünglichen Absicht, für die Rückreise nach Stuttgart die Kutsche zu nehmen, gab dies jedoch als Rücksichtnahme gegenüber Bühler aus, der noch krummbeiniger ging als er. So saßen die beiden wenig später im schaukelnden Coupe. Bühler versuchte die Rede darauf zu bringen, dass nach dem Muster Ludwigsburgs weitere Waisenhäuser gebaut werden müssten, es gebe zu viele elternlose Kinder, denen nichts anderes übrigbleibe als das Vaganten- und Bettlerleben. Darüber aber wollte sich Karl Eugen jetzt nicht weiter unterhalten, er hatte übergenug vom Waisenwesen. So verstummte der Minister, und beide schwiegen fortan beharrlich. Draußen leuchtete der Herbstnachmittag in rotgoldenen Farben; den lichtblauen Himmel sah man von drinnen kaum.
    Karl Eugen verfiel in ein Dösen. Die Abgesandten der Landstände durchkreuzten, er wusste nicht, warum, mit ihren dauernden Mäkeleien seine Gedanken. Dann wieder fühlte er sich umzingelt von hundert stummen Waisen. Man musste sich ihrer annehmen, das war auch Franziskas stetes Drängen. Aber man konnte sich doch nicht alles aufhalsen. Er fasste Bühler, ihm vis-á-vis, ins Auge. Sein Kinn war auf den Kragen gesunken, seine Nase wirkte noch länger als sonst. Er schnarchte leise. Lächerlich. Einfach lächerlich. Die Welt war manchmal nichts als ein Spiegelkabinett, aus dem man nicht mehr herausfand. Und wenn man sich selbst eine Grimasse schnitt, vervielfachte sie sich ringsum in hundert Verzerrungen. Auch dies: lächerlich. Und er rief, ohne zu wissen, ob der Kutscher ihn hörte: »Schneller! Schneller!«
     
    Sulz am Neckar, Herbst und Winter 1786/87
     
    Nach Hannikels dritter Nacht im oberen Turm zu Sulz ordnete Schäffer an, die Frankenhannesen Käther und Dieterle zu ihm zu führen. Er versprach sich davon, dass Hannikel seine Namensverleugnung endgültig aufgeben würde. Inzwischen war ja allen klar, dass er bloß noch aus Eigensinn und Stolz darauf beharrte. Sogar gegenüber dem Konstanzer Hans, der unter scharfer Bewachung vom Zuchthaus Ludwigsburg angereist war, hatte er noch einmal, wie vor den eigenen Brüdern, behauptet, er falle einer Verwechslung zum Opfer, er heiße Kilian Schmid. Der Konstanzer Hans, der vormalige Erzräuber und Schäffers jetziger Hauptinformant, hatte Hannikel ins Gesicht gelacht und ihm Einzelheiten ihres Gaunerlebens in Erinnerung gerufen, die nur sie beide wissen konnten. Aber es hatte nichts genützt. So griff Schäffer zum Mittel, Hannikels Innerstes aufzuwühlen, er rechnete mit der Zuneigung unter den Zigeunern und wollte sie nutzbringend einsetzen. Möglicherweise steckte hinter seiner Entscheidung nicht bloß Kalkül, sondern zudem eine Spur Mitleid mit der auseinandergerissenen Familie, so wie den Schreiber Grau ja auch schubweise der Junge erbarmte. Es war allerdings ein Erbarmen, das keinen Widerhall fand, schon gar nicht Dankbarkeit, denn bei jedem von Graus Versuchen, Dieterle ein wenig näher zu kommen und seinen Haftalltag zu erleichtern, verschloss er sich noch mehr. Der Schreiber hatte bei Schäffer erwirkt, dass der Sohn mit der Mutter zusammengelegt wurde. Bei ihr, dachte Grau, würde der Junge mehr Trost finden als unter den Männern. Er hatte ihm dann ein Hemd schicken lassen, weil er es nicht ertrug, wie zerlumpt der Junge aussah. Es war Graus eigenes Hemd, eines von sechsen, die er besaß; er hatte seine Zimmerwirtin gebeten, es nach seinen Angaben umzuändern. Mit den Händen hatte er den ungefähren Taillenumfang des Jungen angezeigt, die Länge des Oberkörpers. Die Witwe Schlosser weigerte sich erst, machte sich dann aber seufzend an die Arbeit.
     
    Hannikel war mit freien Händen, aber zusammengeketteten Füßen, die ihm nur ein Trippeln erlaubten, ins Besuchszimmer geführt worden und wartete dort auf einem Stuhl. Wachsoldaten brachten Käther und Dieterle herbei. Grau, das Protokollbuch unter dem Arm, begleitete sie auf dem Gang durch die halbe Stadt. Der Junge tat, als kenne er den Schreiber nicht, doch Grau hatte gleich gesehen, dass er das geschenkte Hemd trug. Es passte, und das machte ihn froh.
    Man hatte Frau und Sohn nicht auf die Begegnung mit Hannikel vorbereitet; sie dachten wohl, es gehe zu einem Verhör. Sie waren nicht gefesselt, und so machte es ihnen keine Mühe, die Treppe hochzusteigen. Die Tür zum Besuchszimmer stand offen, Käther ging als Erste hinein. Sie blieb nach dem ersten Schritt wie erstarrt stehen, dann

Weitere Kostenlose Bücher