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Räuberleben

Räuberleben

Titel: Räuberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Hartmann
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stieß sie einen Schrei aus, der dem Schreiber durch Mark und Bein ging. Sie flog auf Hannikel zu, sie, die sonst am Gewicht ihres Körpers schwer zu tragen schien, und er fiel beinahe hin, als sie ihn umhalste, sich an ihn presste, ihn umklammerte, sein Gesicht mit Küssen bedeckte. »Ach du«, stammelte sie, und er schlang die Arme um sie, sagte Worte in der Zigeunersprache, die sie unter Tränen, Wange an Wange, erwiderte, und dann drängte sich Dieterle an die beiden und zwischen sie, und sie bezogen ihn ein in ihre von Ausrufen und Schluchzern begleiteten Umarmungen und Liebkosungen. So stürmisch war dies alles, so ungewöhnlich, dass es Grau peinlich wurde. Er schaute fragend zu Schäffer hin, der, an die Wand gelehnt, das Wiedersehensschauspiel aufmerksam, aber mit unbewegter Miene verfolgte. Nun tauschten Käther und Hannikel, ohne einander loszulassen, hastige und abgerissene Fragen aus, verständliche und unverständliche. »Wie geht es dir?«, fragten sie wohl, »Was wird aus dir, was wird aus uns?«, und vielleicht auch: »Tun sie dir weh?«, »Leidest du Hunger?«, und die ganze Zeit schaute Dieterle, der sich an beiden festhielt, mit einem Ausdruck zu ihnen auf, der Grau ans Herz griff; es war ein Ausdruck, den manchmal Engel auf mittelalterlichen Tafelbildern hatten, eine Art von Unschuld und Entrücktheit, die doch in keiner Weise zu einer Räubersippe passte.
    Schäffer machte der Szene ein Ende. Er trat auf die Dreiergruppe zu und klatschte mehrmals in die Hände. »Genug jetzt«, sagte er laut, aber erstaunlich milde, »es ist genug.«
    Die drei ließen sich los und rückten ein wenig voneinander ab.
    »Nun?«, sprach Schäffer, fast ein wenig amüsiert, Hannikel an. »Wer bist du jetzt? Kilian Schmid, wie du behauptest? Oder doch ein anderer?«
    Hannikel setzte sich auf seinen Stuhl, während Käther neben ihm niederkauerte und nach seiner Hand griff. »Das also wollt Ihr erfahren?«, sagte er mit einem kleinen bitteren Lachen. »Ich bin Jakob Reinhardt, der Hannikel, Ihr wisst es schon lange.«
    »Warum hast du denn so lange gelogen?«
    »Ach, warum?« Hannikel zuckte die Achseln und berührte mit der freien Hand Dieterle, der sich auf der andern Seite des Stuhls hingekniet hatte. »Es gehört zum Spiel, Herr Oberamtmann, ich spiele meine Rolle, so gut ich kann.«
    »Ein Spiel ist es nicht länger«, sagte Schäffer. »Morgen beginnen die Verhöre, und da gilt es ernst.«
    Hannikel neigte den Kopf, der Bart drückte auf seinen Stehkragen. »Ihr werdet fragen, ich werde antworten.«
    »Und hoffentlich nicht lügen.«
    Hannikel hob den Blick, und darin war plötzlich eine Kraft, die begreifen ließ, weshalb er auf andere seines Stamms eine solche Wirkung hatte. »Eine Bitte, Herr Oberamtmann. Geht mit meinem jüngsten Kind« - er deutete auf Dieterle - »schonungsvoll um, tut ihm kein Leid an. Ein Kind macht, was ihm befohlen wird. Schuldig wird es erst, wenn es aus eigenem Willen handelt.«
    Dieterles Gesicht flammte auf, er rückte vom Vater ab. »Was sagst du da? Ich bin schon groß genug, ich gehöre dazu, man braucht mich nicht zu schonen.«
    »Schweig!«, befahl ihm Hannikel; die Silbe widerhallte im Raum.
    Dieterle fuhr zusammen und verstummte. Käther sah aus, als wolle sie gleich wieder in Tränen ausbrechen.
    Schäffer jedoch sagte kühl: »Ich verspreche dir gar nichts, Hannikel, ich übe meine Pflicht aus, wie es sich gehört. Nur eines, zu deiner Beruhigung: Von scharfen Mitteln sehen wir ab in unserem aufgeklärten Staat, es gibt lediglich Ausnahmen bei unrettbar Verstockten, und die muss der Landesherr bewilligen.«
    Ob er diese kurze Unterredung protokollieren solle, fragte Grau dazwischen.
    »Nicht nötig!«, fertigte Schäffer ihn ab.
    Die Zusammenführung hatte ihren Zweck erreicht. Die Wachsoldaten, vom Amtsdiener gerufen, traten herein, drei allein für Hannikel. Es gab Abschiedsworte in der Zigeunersprache, Abschiedsblicke, ein Streifen über Haare und Wangen, wenig später hatte man Hannikel hinausgeführt. Grau stand bei der Tür. Dieterle berührte ihn beim Hinausgehen beinahe, gönnte ihm aber keinen Blick. Sein Gesicht war finster, der Haarschopf roch nach Rauch und Unrat. Der Schreiber hätte bloß die Hand auszustrecken brauchen, um das helle Leinenhemd zu berühren.
     
    Am Ende dieses Arbeitstags, der wieder weit länger gedauert hatte als vorgesehen, ging Grau unter seinem Regenschirm nach Hause. Es war bereits so dunkel, dass die Gassenjungen, für die Regenschirme

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