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Räuberleben

Räuberleben

Titel: Räuberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Hartmann
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ein Kuriosum waren, keine Gelegenheit hatten, johlend hinter ihm herzulaufen. Grau gönnte sich ja sonst kaum eine Extravaganz; aber Regenschirme hielt er für nützlich, und darum hatte er auf einem seiner seltenen Ausflüge nach Stuttgart bei einem Modisten, der die neuesten Modelle aus Paris und Berlin importierte, einen gekauft, den solidesten, mit gewachster, dezent gemusterter Seide bespannt, mit Messingstreben und einem Mahagonigriff. Sündhaft teuer war der Schirm gewesen, die Ersparnisse eines halben Jahres hatte er aufgezehrt, doch er gestattete Grau, nun auch bei Regenwetter seltene Insekten aufzuspüren. Er hatte eine Technik entwickelt, den Schirm schräg hinzustellen, durch Steine zu sichern und unter seinem Dach kauernd den Boden abzusuchen. Schwer war das Ding indessen, es geriet auch jetzt über seinem Kopf ins Schwanken. Bis er bei der Witwe Schlosser angekommen war, mochte er den Schirm kaum noch im Gleichgewicht halten.
    Die Zimmerwirtin empfing ihn mit den üblichen Vorwürfen wegen seiner Verspätung. Er aß in der Küche den kalt gewordenen Blumenkohl und das Schweinsragout, das fast ganz in erstarrter Sauce versunken war. Rasch zog er sich, ungeachtet der Gesprächsversuche der Witwe Schlosser, in sein Zimmer zurück, zündete die Öllampe an und durchmusterte die spärliche Post, die auf dem Schreibtisch lag. Wieder kein Brief aus Kiel. Professor Fabricius hatte auf Graus Reiseberichte weder geantwortet noch für die zugeschickten Insekten gedankt. Merkwürdig. Sollte er ihm schreiben und sich nach seiner Gesundheit erkundigen? Oder hatte Fabricius so viel zu tun, dass er keine Zeit für einen kleinen Schreiber fand? Grau wurde es, nicht zum ersten Mal, bewusst, dass ausgerechnet ein Mensch, den er noch nie gesehen hatte, sein nächster Vertrauter war. Ja, das Gelände seines Lebens war leer und ausgedörrt; immerhin erkannte er am Horizont außer dem Dänen Fabricius noch seine Cousine, seine Tochter Sophie und die Witwe Schlosser, die so nah war und die er doch von sich fernhielt. Wider Willen dachte er auch an Dieterle, den Räuberjungen; sein Bild mit dem wirren, nach allen Seiten abstehenden Haarschopf verdrängte jenes von Sophie. Sie aber, das nahm er sich vor, würde er an einem der nächsten Sonntage wieder besuchen.
    Er legte einen Insektenkasten - es war jener mit den Bienen - auf den Präparationstisch und schaute sich, mit der Lupe vor dem Auge, einzelne Exemplare an. Trotz der Öllampe war es so dunkel, dass er keine Einzelheiten mehr unterscheiden konnte, und seine Gedanken blieben ohnehin an Dieterle haften. Weshalb beschäftigte ihn dieser Junge so sehr? Er war etwa gleich alt, wie sein eigener Sohn gewesen wäre, hätte er noch gelebt; und vielleicht gab es auch eine flüchtige Ähnlichkeit mit dem Verstorbenen. Aber ein Zwölfjähriger ließ sich kaum mit einem Fünfjährigen vergleichen. Selbst wenn es so war, reichte dies nicht aus, Graus widerstreitende Gefühle zu erklären. Ganz unerwartet überfiel ihn zuweilen der Drang, den Jungen zu retten, ihm ein neues Leben zu eröffnen, und dann wiederum reizte ihn seine Bockigkeit zur Weißglut, und er hätte sie am liebsten aus ihm herausgeschüttelt.
     
    Die Verhöre fanden im Oberamt statt, sie dauerten den ganzen strengen Winter hindurch und zogen sich bis in den Vorsommer. Üblicherweise wurden die Gefangenen bei Gegenüberstellungen mit Geschädigten zu zweit oder zu dritt in einen der Amtsräume geführt, der sonst als Sitzungszimmer diente. An der Schmalseite eines schweren Eichentischs nahm Schäffer, als Hauptinquisitor, Platz. Flankiert wurde er von den Beisitzern, den Dorfvögten Wörner aus Sigmarswangen und Plocher aus Holzhausen, die für die Dauer der Verhöre weitgehend von ihren Amtspflichten befreit waren, dazu gesellte sich zeitweise der Ratsherr Mutschier. Weiter unten am Tisch saß der Schreiber Grau als Protokollant auf einem Stuhl, den er als höchst unbequem empfand; bisweilen wurde er abgelöst von seinem Gehilfen Eyt, dem aber meist schon nach kurzer Zeit die Augen tränten. Die Malefikanten, streng bewacht von Männern der Sulzer Miliz, hatten am andern Ende des Tischs stehend auszuharren, nur bei Schwächeanfällen wurde ihnen gestattet, sich zu setzen. Sogar wenn die tiefstehende Sonne durch die beiden Fenster schien, blieb es düster im Vernehmungszimmer; die dunklen Deckenbalken schienen den Großteil der Helligkeit aufzusaugen. Grau musste sich tief über die Protokollnotizen beugen, um seinen

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