Räuberleben
schwach gewesen sei, immer gehustet, sogar Blut gespuckt und wohl am meisten unter der Kälte gelitten habe, gerade deshalb sei der Bub ihr besonders ans Herz gewachsen, sie würde alles tun, um Schaden von ihm abzuwenden.
Es gab Momente, da blieb Graus Feder in der Luft schweben, und er merkte gar nicht, dass er aufgehört hatte zu schreiben. Er stellte sich vor, wie nachts der Schnee um das Kind herum in die Höhe wuchs, wie es schon fast begraben lag unter der kalten weißen Last. Er wusste, dass es nicht so gewesen sein konnte, es waren ja immer Menschen um Dieterle herum gewesen, und doch gelang es ihm nicht, das Bild des einsamen Kindes im Schnee zu vertreiben. Erst eine halblaute Ermahnung des Amtsdieners Roth, der hinter ihm an der Wand stand, brachte ihn zur Besinnung. Wie von selbst schrieb die Hand nun weiter. Er staunte selbst über die Sätze, die aus der Feder flossen, sie gaben verkürzt wieder, was er gehört hatte, und verschwiegen doch das meiste.
Ob nicht der Sommer, fragte der Oberamtmann Käther am dritten Verhörtag, die Zigeuner jeweils für alles winterliche Leid entschädigt habe?
Käther, die eben noch gefröstelt zu haben schien, straffte sich. Ihr Lächeln war so unerwartet wie die Frage. »O ja, der Sommer. Im Sommer haben wir Feste gefeiert, getanzt, gesungen.«
»Und gewildert habt ihr auch«, sagte Schäffer, aber es klang dieses Mal so nachsichtig, als sei er selbst verlockt, in den grünen Wald einzutauchen und am Lagerfeuer Platz zu nehmen.
»Ja, Hannikel hat gejagt«, sagte Käther nicht ohne Stolz, »aber nur für den eigenen Bedarf, nie hätte er die Beute weiterverkauft.«
Schäffers Stimme kippte gleich wieder ins Übellaunige. »Das heißt doch für dreißig, vierzig Leute, und die verzehren nicht bloß einen Hasen oder ein Reh.«
»Es sind nicht immer so viele gewesen«, wehrte Käther ab. »Wir haben uns oft auch mit Igeln begnügt, die ja von den Sesshaften nicht gegessen werden.«
Dem Schreiber grauste beim Gedanken an Igelfleisch. Doch die Aussage hielt er pflichtgemäß fest, auch wenn sie mit dem Fall nichts zu tun hatte, ebenso wenig wie die Umstände von Käthers Bekanntschaft, die Schäffer peinlich genau zu ergründen versuchte.
Sie und Hannikel hätten sich, erzählte Käther, vor vielen Jahren zufällig in einem Wirtshaus getroffen und gleich aneinander Gefallen gefunden. Seither seien sie zusammengeblieben, hätten auch ihre Sprösslinge, sieben insgesamt, gemeinsam durchgebracht, unter vielen Mühen, die sie ja geschildert habe.
Ob es schon, wie bei Zigeunern üblich, bei dieser ersten Begegnung, fragte Schäffer scheinbar beiläufig, zur Kopulation gekommen sei. Die Frage, das war Grau klar, zielte darauf, die moralische Verkommenheit der Zigeuner sichtbar zu machen.
Käther errötete; man sah es trotz der ledernen Beschaffenheit ihrer Gesichtshaut und des schlechten Lichts. Daran erinnere sie sich nicht, sagte sie; die Sinti - es war das erste Mal, dass sie diese Bezeichnung gebrauchte - seien einander im Übrigen genauso treu oder untreu wie die Sesshaften.
Schäffer widersprach: Sie wisse doch, wie es mit Mantua, der Beischläferin Wenzels und Tonis, gegangen sei. Oder man müsse sich bloß vergegenwärtigen, dass Hannikel von drei Frauen Kinder habe und sie selbst, Katharina Frank, mit mindestens drei Männern herumgezogen sei.
Käther schwieg eine Weile mit gesenktem Kopf, so dass ihr die Haare über die Stirn fielen, und Schäffer hätte das Thema wohl fallenlassen, wenn sie sich nicht plötzlich wieder zu Wort gemeldet hätte. »Wegen Hannikel«, sagte sie mit Anstrengung, »da habe ich einen Wunsch. Er ist mir lieb, ich kenne ihn nun schon so lange, und darum möchte ich mit ihm kirchlich getraut werden. Hannikel wünscht sich das auch, wir sind uns darüber einig.«
Diese Worte riefen eine solche Verblüffung hervor, dass ein paar Sekunden lang nur noch das Kratzen von Graus Feder zu hören war. Dann hatte sich Schäffer gefasst. Er rieb seine Hände und sagte beinahe gütig, man werde Käthers Anliegen prüfen; sie müsse allerdings, sofern ihr Heiratswunsch nicht wieder abklinge, ein Gesuch zuhanden höherer Instanzen stellen. Der Schreiber Grau werde es für sie zu Papier bringen, und sie müsse es unterzeichnen, allenfalls mit drei Kreuzen.
Käther gab zur Antwort - funkelte da nicht ein kleiner Spott in ihren Augen? -, der Heiratswunsch sei beständig, er werde keinesfalls vergehen, und ihren Namen könne sie durchaus
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