Räuberleben
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Niemand im Verhörzimmer ließ sich seine Verlegenheit anmerken; aber Grau spürte sie wie einen kleinen Zugwind, der über die Gesichter strich und die Augen zum Blinzeln brachte. Die Verlegenheit war auch in ihm, und sie war ihm unangenehm, obwohl sie bald durch die nächsten Fragen und Antworten verscheucht wurde.
Es war inzwischen empfindlich kalt im Amtsgebäude. Schäffer erlaubte noch nicht zu heizen, so blies Grau immer wieder auf seine Hände, um sie zu wärmen, oder er wippte unter dem Tisch mit den Füßen, die bloß in dünnen Hausschuhen steckten.
Auch Dennele, die allgemein als Simpel bezeichnet wurde, kam zum Verhör. Schäffer hatte darauf bestanden und bereute wohl bald seine Anordnung. Viel Zusammenhängendes war aus ihr nicht herauszulocken. Sie stand vor dem Tisch, unförmig im viel zu weiten grauen Rock, den man ihr gegeben hatte, verängstigt gegenüber den Herren am andern Tischende. Immer wieder brach sie in Tränen aus, wohl deshalb, weil sie die Fragen nicht verstand oder ihr keine Antwort einfiel. Wenn sie doch eine hervorbrachte, war sie meist verworren, oder sie endete abrupt, mitten im Satz, und dann schaute Dennele die Befrager ratlos an, als müssten sie nun den Faden aufnehmen. An Orte und Zeiten erinnerte sie sich nicht; es zeigte sich bald, dass sie keinen rechten Begriff davon hatte, was ein Diebstahl oder Raub war und was das Gesetz bedeutete. Vor den entsprechenden Wörtern schien sie sich aber zu fürchten.
»Käther ist nicht meine richtige Daj«, sagte sie, »aber sie ist trotzdem meine Daj, ich habe keine andere. Und meine Daj hat immer allen zu essen gegeben, manchmal auch Hühnersuppe, die mag ich am liebsten, ich mag es, wenn etwas darin schwimmt, Graupen und Zwiebeln. Ich rühre die Suppe gerne, das macht sie noch besser.« Dabei ging plötzlich ein Lächeln über ihr Gesicht, das die stumpfen Züge verschönte. Oder sie erzählte ganz unbefangen, dass sie keine Uniformen möge, denn Männer in Uniformen wollten ihnen Übles antun, man müsse vor ihnen davonlaufen, und plötzlich rannen ihr wieder Tränen über die Wangen.
»Dem Dad«, sagte sie, »wollen sie an den Kragen, sie haben den Dad in Ketten gelegt, das ist schlimm. Er hat mich immer auf den Knien reiten lassen, da war ich noch klein.«
Der Dad, der Dad. Ihn pries sie wie einen Heiligen, der aber auch streng sei, wenn er müsse. »Der Dieterle«, erzählte sie, »ist ja viel zu klein für sein Alter. Aber dem Dieterle macht der Dad Mut, dass er wächst, und mir macht er Mut, dass ich zählen kann.« Sie hob die Faust und streckte dann, indem sie stockend zählte, einen Finger nach dem anderen hoch, bis Schäffer sie unterbrach, aber auch - das hatte niemand erwartet - für ihre Fertigkeit lobte.
Einmal schloss sie eine besonders verworrene Aussage mit dem Satz ab: »Aber den Dad, den darf man nicht töten, er ist doch mein Dad.« Es kam dazu ein Flehen in ihre Augen, das auch Schäffer rührte. Er ließ sich vom Amtsdiener ein Glas Wasser reichen und trank es in einem Zug aus. Dennele wollte aber plötzlich zu Käther; ohne Käther sei ihr nicht gut, sagte sie störrisch, jetzt gleich wolle sie zurück zu ihr. Grau begnügte sich in solchen Phasen mit kurzen sachlichen Sätzen, denen alles Stocken und alle Unsicherheit ausgetrieben war: Gibt an, ihrem Vater zugetan zu sein. Hält es ohne die Stiefmutter nicht lange aus.
Abends dann, wenn er allein in seinem Zimmer saß, stand Dennele unvermutet so deutlich vor ihm, wie er sie beim Protokollieren gar nicht wahrgenommen hatte. Woher kam diese genaue Kenntnis? Er sah innerlich, als wäre es gemalt, ihr rundes Gesicht, das die Unschuld des Kleinkinds spiegelte, ihre seltsamen, schräggeschnittenen Augen, in denen stets etwas Staunendes lag, er hörte ihre schleppende, leicht heisere Stimme, die sie am Ende der schlichten Sätze jeweils ein wenig anhob, als sei im Grunde alles, was ihr einfiel, eine einzige große Frage an die Welt. Was konnte man ihr Böses wünschen? Was hatte sie Böses getan? Man würde sie ins Zuchthaus sperren wie die anderen Frauen. Den Sommerwald würde sie lange oder nie mehr sehen, sie würde dahinwelken wie eine Margerite, die man ins Dunkle verpflanzt. Er schaute hinaus in die Nacht, durch die, schwach sichtbar, der Nebel kroch. Seit Tagen hatte er sich nicht mehr um seine Sammlung gekümmert, auch jetzt wieder setzte ihm die Frage nach der Gerechtigkeit zu. Was konnte als gerechte Strafe gelten für all diese
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