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Räuberleben

Räuberleben

Titel: Räuberleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Hartmann
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knarrte. Doch bevor er über die Schwelle trat, fragte Grau nach den Kindern des Herrn Oberamtmanns, ob sie gesund seien und wohl gediehen. Das hatte er noch nie getan; es war ein Bruch mit all ihren Amtsgewohnheiten, und er wusste wohl, dass in seiner Frage ein Stachel saß. Schäffer versteifte sich kurz und sagte: »Danke der Nachfrage, ich habe nichts zu beklagen.«
    Verwirrt blieb Grau zurück. Warum war er so plötzlich in Schäffers Privatgelände eingedrungen? War es deswegen, weil er gehört hatte, dass Schäffers Altester krank gewesen sei? Er kannte nicht einmal den Namen des Kindes, er konnte sich kaum an dessen Aussehen erinnern. Es war Monate her, dass Schäffers Frau oder die Dienstmagd sich mit ihm in den Amtsräumen gezeigt hatte. Einen Augenblick lang streifte ihn der Gedanke, er könnte den Oberamtmann darum bitten, den Jungen in seine eigene Familie aufzunehmen. Was für eine abwegige Idee! Da könnte geradeso gut er selbst, der Schreiber Grau, die Witwe Schlosser heiraten, Sophie wieder zu sich nehmen und Dieterle noch obendrein und beiden ein Vater zu sein versuchen, der er bisher nicht gewesen war. Hirngespinste! Und dümmliche dazu! Wie glorios würde so etwas scheitern! Grau machte eine fahrige Bewegung mit den Händen und hörte sich lachen. Über wen lachte er? Am ehesten über sich selbst, über diesen Ritter von der traurigen Gestalt, der meinte, einen Räuberspross geradebiegen zu können. Eigentlich war er todmüde, es war so viel Schlaf in ihm, dass sein Kopf vornübersank, ja, er legte ihn aufs Pult, auf beschriebenes Papier, es war wohltuend, den Kopf ruhen zu lassen, ein wenig dahinzutreiben, obwohl man sich gar nicht bewegte.
     
    Flussabwärts, mit sachten Ruderschlägen. Die Hochzeitsfahrt mit Christine, ihm gegenüber sitzt sie, lässt die Hand durchs Wasser gleiten. Wie grün die Welt sein kann. Man ist sich noch fremd, denn die Eltern haben die Heirat eingefädelt, Salzsiedersohn und Schustertochter, das passt. Man hat sich gefügt, man hofft, dass man sich mögen wird, und dann, nach der Trauung, dieser Ausflug in drei Booten. In ihnen haben die wenigen Eingeladenen Platz, nach Fischingen geht es, zu einer Wirtschaft mit billigen Speisen. Er rudert und hat vor sich Christines zartes Gesicht mit den farblosen Brauen. Ein großes Staunen ist in ihm, dass sie beide hier sind, Mann und Frau jetzt; an dichtem Weidenlaub treiben sie vorbei wie durch eine Schlucht von Grün und wissen nicht, was ihnen bevorsteht, es ist eine Zeit, in der er weder auf Bienen noch Ameisen achtet.
    Die Tür knarrte wieder, Grau schreckte auf, es war dunkel geworden. Der Amtsdiener Roth, den Leuchter in der einen, den Schlüsselbund in der anderen Hand, fragte unwillig, ob Grau nicht endlich Schluss mache; sein gesunder Schlaf am Schreibtisch deute darauf hin, dass es nichts mehr zu tun gebe.
    »Ja«, sagte Grau. »Ich will nach Hause. Ich bin müde.«
    »Nach Hause, nach Hause«, murmelte Roth, als imitiere er ein Echo. »Unsereiner hat ja auch seine Bedürfnisse. Man hätte zum Beispiel gerne neue Kleider.« Neben dem grämlichen Spott lag eine Traurigkeit in diesem Satz, die Grau nur zu gut verstand. In letzter Zeit hatte er bisweilen über Roth nachgedacht. Aber er wusste beinahe nichts über ihn; herumerzählt wurde einzig, dass er sich nach manchem gescheiterten Heiratsversuch mit seinem Junggesellendasein abgefunden hatte.
    Als er unsicher aufstand, hatte Grau ein paar Atemzüge lang keine Ahnung mehr, wohin er seine Schritte lenken sollte, und das erschreckte ihn so, als sei er wirklich heimatlos geworden, ein Fahrender, ein Zigeuner wie Hannikel, der nun bald hängen würde. Wir taumeln, wir baumeln. Saumselige sind wir, Weißmehlige. Auch diesen Reim schrieb er auf, kopfschüttelnd und doch mit leiser Belustigung.
     
    Sulz am Neckar, 15. und 16. Juli 1787
     
    Reininger traf früh am nächsten Morgen in Sulz ein, er hatte sich in Tuttlingen aufgehalten und war schon lange vor Sonnenaufgang aufgebrochen, um sich, wie er sagte, möglichst ungesäumt und mit aller Kraft der armen Seele zuzuwenden, die seines Beistandes bedurfte; es gebe für einen Geistlichen keine heiligere Pflicht, als einen todgeweihten Sünder zu bekehren. Er war ein kleiner, rundlicher Mann in unordentlicher Priesterkleidung. Er redete schnell, beinahe überstürzt, machte aber immer wieder überraschende Pausen, als staune er über die eigene Beredsamkeit. Er griff sich oft an den Kopf und merkte nicht, dass dabei die

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