RAFA: Mein Weg an die Spitze (German Edition)
auswirkt, dass man besser spielt als der Gegner, weil man klarer denkt. Ich war zufrieden, aber nicht in Hochstimmung. Es lag noch ein weiter Weg vor mir, und jeder Gedanke an einen Sieg, jeder Anflug von einem Film mit Happyend in meinem Kopf wäre einem Selbstmord nahe gekommen. Ich musste weiter fokussiert bleiben und ihm durch mein Auftreten und mein Handeln vermitteln, dass ich nicht nachlassen würde. Wenn er mich schlagen wollte, musste er jeden einzelnen Ball gut, sehr gut spielen; er musste sein bestes Tennis abrufen, und das über lange Zeit. Mein Ziel war es, ihm den Eindruck zu vermitteln, dass er über Stunden bis an seine Grenzen gehen musste.
Er verstand die Botschaft. Er ließ nicht wieder nach, aber es war zu spät. Wir spielten beide bis zum Ende des ersten Satzes in Bestform, aber ich brachte alle meine Aufschlagspiele durch und gewann 6:4.
ONKEL TONI
Wenn man Toni Nadal fragt, was er seinem Neffen als Letztes sagte, bevor dieser 2008 in Wimbledon die Umkleidekabine zum Endspiel verließ, erzählt er: »Ich sagte ihm, er solle bis zum Ende kämpfen und durchhalten.« Auf die Frage, wie Rafa es im Tennis an die Weltspitze geschafft hat, erklärt er: »Das liegt nur am Kopf, an der Einstellung, mehr zu wollen, mehr auszuhalten als dein Gegner.« Und wer wissen will, was er zu Rafa an jenen Tagen sagt, an denen der Körper rebelliert und der Schmerz zu stark scheint, um zum Wettkampf anzutreten, bekommt zur Antwort: »Ich sage ihm: ›Guck, du hast zwei Möglichkeiten. Sag dir, du hast genug, dann gehen wir, oder sei bereit zu leiden und mach weiter. Du hast die Wahl, durchzuhalten oder aufzugeben‹.«
»Durchhalten« ist ein Wort, das Toni seinem Neffen von klein auf eingetrichtert hat. Es zeugt von der ungewöhnlich spartanischen Lebensphilosophie auf einer Insel und in einem Land, in dem das Spaßprinzip dominiert. Toni wirkt wie ein Spanier vergangener Zeiten, wie ein Abkömmling des Eroberers Hernán Cortés, der im 16. Jahrhundert mit einer kleinen Truppe von knapp 100 Mann in Mexiko landete und seine Schiffe verbrannte, damit niemand in die Versuchung kam, in die Heimat zu flüchten. Unter entsetzlichen Entbehrungen und furchtbaren Umständen besiegte er das Aztekenreich und eroberte dessen Schätze und ausgedehntes Land für die spanische Krone.
Mit seinem stämmigen Körperbau, dem dunklen Teint und den kräftigen, muskulösen Beinen wirkt Toni mitunter wie aus jenem Holz geschnitzt, aus dem die Conquistadores waren. Er ist resolut, hat einen kühlen Blick, nimmt kein Blatt vor den Mund und ist erstaunlich wenig bemüht, seine Umgebung für sich einzunehmen. Dabei ist er keineswegs unfreundlich: Nach Ansicht seiner Familie ist er zu Fremden, die ihn um Tickets für ein Match bitten, oder zu Journalisten, die ein Statement von ihm erwarten, ausgesprochen großzügig. Aber gegenüber allen, die ihm nahestehen, kann er launisch, mürrisch und streitlustig sein, auch wenn er unbeirrbar loyal zu ihnen steht. Das schwarze Schaf der Familie ist er jedoch nicht, weil die Nadals fest zusammenhalten und niemanden ausgrenzen. Carlos Costa, der die Familie gut kennt, erklärt: »Toni ist anders.« Er ist knurriger als seine Brüder, eigensinniger, ein Moralist mit festen Ansichten, der immer zu Kontroversen bereit ist.
Allerdings ist er nicht ganz so conquistadorenmäßig hart oder so selbstgenügsam, wie es den Anschein haben mag. Manche Medien neigen zu der Darstellung, Rafa wäre nichts ohne Toni. Aber man könnte auch das Gegenteil meinen: Toni wäre nichts ohne Rafa. Die Wahrheit liegt in der Mitte. Toni und Rafa sind ein Duo, das aufeinander angewiesen ist und sich in seinen Stärken und Schwächen ergänzt. Gemeinsam sind sie stärker, als es jeder für sich wäre.
Früher träumte Toni einmal davon, Champion zu werden. In seiner Jugend spielte er hervorragend Tennis und machte sich einen Namen als einer der besten Spieler Mallorcas. Eine Zeit lang war er zudem der beste Tischtennisspieler der Insel und brachte es im Schach zu lokalem Ansehen. Er besaß die körperlichen Voraussetzungen und das Köpfchen, als er aber Tennisprofi wurde und seine Insel verließ, um das spanische Festland zu erobern, musste er feststellen, dass er zwar ein beständiger Spieler war, aber nicht über die nötige Schlaghärte, den Killerpunch, verfügte. Als Trainer bemühte er sich vor allem, seinen Schützlingen gerade diese Qualität beizubringen. Jungen, die er zusammen mit seinem Neffen trainierte,
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