Rafflenbeul, S: Elfenzeit 14: Der Magier von Tokio
und Raum. Obwohl es sie viel Kraft kostete, begab sie sich von Neuem auf die Suche. Ruhelos irrte ihr Geist in andere Welten. Mit ihren Sinnen durchstieß sie die Grenzen.
Wo bist du?
, schrien ihre Gedanken.
Ich befehle dir, zurückzukehren!
Er antwortete nicht. Da war nur Schweigen, wie sie es jeden Tag zu hören bekam, seit sie versuchte, ihn aufzuspüren. Dennoch verzagte sie nicht. Immer wieder durchstreifte sie die Reiche auf der Suche nach seiner schwarzen Aura, vergebens. Wo einst ein heftiges Pulsieren gewesen war, gab es nur noch Stille, Leere. Ganz so, als habe der Getreue nie existiert. Als sei er nur ein Gespinst ihrer Fantasie gewesen, das sie sich erdacht hatte, um stärker zu sein.
»Ich befehle es dir! Komm zurück!«
Ihr Sein erreichte die Geisterwelt. Mühelos flog sie auf das turmähnliche Gebäude aus grauschwarzem Nebelgestein zu, das sich wie ihr eigener Einhornturm emporreckte. Doch dort gab es keinen Himmel und kein grünes Land. Alles war eins, oben war unten. Sie glitt hindurch, sprengte mit der Macht ihres Willens die hohen Torflügel auf und erreichte einen langen Gang voller Spiegel, die ihr Abbild nicht reflektierten, weil sie keine Seele besaß.
Eine Wendeltreppe führte hinauf in das einzige Zimmer. Voller Verzweiflung sah sie sich in dem leeren Raum um. »Wo bist du?«, schrie sie in die Stille des Turmes.
Mattes Licht fiel durch schmale Schlitze im Mauerwerk. In diesem Raum gab es nichts außer Spiegeln. Schwarze Tücher verbargen das Glas. Die Dunkle Königin riss ein Tuch nach dem anderen fort und starrte in die Spiegel, als könne sie dort entdecken, was mit ihrem wichtigsten Diener geschehen war, doch sie waren blind. Bandorchu verankerte einen Teil ihrer Kraft in dem dicken Mauerwerk, hinterließ dem Getreuen einen Anker, über den er zu ihr finden sollte. Und wieder rief sie nach ihm. Statt einer Antwort sah sie in einem der Spiegel in einem kurzen, plötzlichen Aufblitzen seine leblose Gestalt schweben – eine Reflexion ihrer eigenen Ängste. Abrupt zog sie sich aus der Geisterwelt zurück.
»Nein!« Bandorchus zorniger Schrei ließ das Glas aus der Laibung des Fensters in ihrem Gemach heraussplittern. »Du bist nicht tot! Du nicht!«
Obwohl sie sich der Vorstellung verweigerte, würde sie Kraft brauchen, falls dieser schlimmste aller Fälle tatsächlich eintraf.
Bandorchu spürte den kühlen Herbstwind, der über ihr blutendes Gesicht strich. Einige Splitter des Fensters hatten sich in ihre Haut gebohrt, doch das Glas wurde bereits von ihrem Körper abgestoßen, die Wunden schlossen sich.
»Ich muss mir einen letzten Rest an Stärke bewahren.« Gehetzt wandte sich die Königin vom Fenster ab. Ihre Blicke nahmen wieder ihre rastlose Suche auf und verharrten auf dem seidenbezogenen Bett. »Ich brauche ein Mittel, das mich rettet und meine Schwäche überbrückt, bis der Getreue mich gefunden hat. Auf ihn muss ich jetzt vertrauen und so lange vorsorgen, bis er zurückkehrt.«
Die Dunkle Königin ging zitternd zum Bett und sank auf die nachtblauen Laken. Ihr hellblaues Taftkleid raschelte leise. Es hatte sie zu viel Kraft gekostet, einen Teil von sich im dunklen Turm zu verankern. Damit hatte sie den Prozess ihres Verfalls beschleunigt. Kaum lag sie auf der weichen Matratze, spürte sie es: Sie würde nicht mehr aufstehen können.
»Es gibt nur eines, was mich noch retten kann. Nur eine Kraft, die mächtig genug ist, mich zu nähren und zu stärken.« Die Augen der Dunklen Frau waren weit aufgerissen. Sie starrte auf die reich verzierte Kassettendecke mit den zahlreichen Bildern. Sie veränderten sich; neue Linien und Formen entstanden kraft ihrer Gedanken. Da war zum Beispiel ein Säugling, gebettet auf eine Decke aus gewebten Blütenblättern.
»Talamh«, flüsterte sie heiser. »Du wirst mich retten.«
Ja
. Die Dunkle Königin schloss die Augen. Zum ersten Mal seit der entsetzlichen Schlacht auf dem Idafeld fühlte sie sich ruhig und sicher. Sie hatte einen Plan, wie sie des Elfenkindes doch noch habhaft werden konnte.
»Bandorchu!« Nadja erwachte schweißgebadet und stocksteif. Reglos lag sie auf dem Futonbett und wusste zuerst nicht, wo sie sich befand. Das Traumbild verblasste. Es dauerte einen Moment, bis sie sich orientiert hatte. Langsam stand sie auf und ging über die naturfarbenen Tatami-Matten zum großen Panoramafenster. Unter ihr lag Tokio in der Abenddämmerung, ein Meer aus blinkenden Lichtern. So weit das Auge reichte, reihte sich Haus an Haus.
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