Rafflenbeul, S: Elfenzeit 14: Der Magier von Tokio
Omote sah sie lange an. Es war, als suchten die dunkelbraunen Augen in Nadjas Gesicht nach der Wahrheit ihrer Worte. Die Prüfung dauerte lange. Nadja hielt still und blinzelte nicht.
Schließlich nickte die Japanerin. »Es gibt ein altes japanisches Sprichwort: Wenn das unbedachte Wort erst einmal hinaus ist, kann es kein Pferd der Welt mehr wiederholen.« Sie lächelte schwach. »Informieren Sie sich über das Shiroi-kamen-no-Gekijô, das Theater der Weißen Masken. Dort werden Sie den Mann finden, den Sie suchen.«
Impulsiv ergriff Nadja ihre Hand. »Sie wissen nicht, wie viel Gutes Sie eben getan haben.«
Die Frau wirkte unentschlossen, doch schließlich umschloss sie Nadjas Finger. Sie sah die Deutsche lange an. Erneut schien sie ihr hübsches Gesicht zu prüfen. »Sagen Sie – Ist es wahr, was meine Großmutter mir immer erzählte? Dass es eine Welt hinter der Welt gibt?« Sie blickte auf das Cairdeas an Nadjas Handgelenk.
Die Journalistin ließ die Hand der Frau los. »Was glauben Sie, Frau Omote?«
»Ich glaube, ich will es gar nicht wissen«, antwortete die Ältere. »Leben Sie wohl, Miss Oreso. Und rufen Sie mich nie wieder an!«
»Das verspreche ich Ihnen.« Nadja wandte sich ebenfalls zum Gehen. In Gedanken wiederholte sie den Namen, den Frau Omote ihr genannt hatte: Shiroi-kamenno-Gekijô, das Theater der Weißen Masken.
6 Theater der Weißen Masken
Das Ueno war ein traditionelles Viertel voller Widersprüche. Zwischen Hochhäusern standen alte, niedrige Häuserkomplexe. Einige waren verschachtelt und weitläufig, sie nahmen ganze Blocks ein. Der Bereich gehörte zu einem der Gebiete, die die Elfen inzwischen eingegrenzt hatten. Sie waren nicht überrascht gewesen, als Nadja ihnen erzählt hatte, wo sich das Theater befand.
Im Internet hatte die Journalistin nach dem Theater der Weißen Masken geforscht und war tatsächlich fündig geworden. Gleich nach dem Abendessen hatte sich die Gruppe auf den Weg ins Ueno-Viertel gemacht. Nadja hatte inzwischen das Gefühl, mit dem S- und U-Bahn-System der Stadt besser zurechtzukommen. Zwar würde sie sich nie an diese Menschenmassen gewöhnen, aber der Ein- und Ausstieg aus den vollen Bahnen wurde allmählich vertrauter. Chiyo hatte ihr erzählt, dass sie bei der Rückfahrt am Vortag während der Rushhour gänzlich den Boden unter den Füßen verloren hatte. Nadja war froh, dass ihr das noch nicht passiert war. Im Allgemeinen hatte sie kein Problem mit Menschen, aber so eingepfercht zu sein, dass man vom Boden abhob, war wirklich nicht ihr Ding.
»Es ist ein Nô-Theater«, klärte Nadja die Elfen über ihre Recherchen auf, während sie zwischen niedrigeren Hochhäusern hindurchgingen, immer dem Stadtplan nach und in Richtung ihres Zieles. »Das Nô-Theater ist ein sehr traditionelles japanisches Theater, in dem die Gesten und Bewegungen symbolischen Charakter haben. Eine Bühne des leeren Raumes. Die Kulissen sind nur angedeutet, dafür sind die Gewandungen umso prunkvoller. Hauptsächlich wird mit der Körpersprache und der Stimme gearbeitet. In den Zeitungen steht, dass im Theater der Weißen Masken besonders das Laufen sehr faszinierend dargestellt wird, dem hohen Ideal des Schwebens nachempfunden.«
»Kein Wunder, wenn dort welche von uns die Vorstellungen geben«, sagte Naburo brummend. »Ich habe mich immer noch nicht richtig an dieses sonderbare Laufgefühl gewöhnt.«
»Die Kostüme sollen extrem prachtvoll sein«, fuhr Nadja fort. »Im Gegensatz zu anderen Nô-Theatern sind auch die Nebendarsteller in Brokat und Seide gehüllt. Außerdem lobt die Presse die Masken in den höchsten Tönen. Sie seien wie eigene Mitspieler, heißt es. Darüber hinaus geht das Theater seinen eigenen Weg. Es ist in Japan eigentlich üblich, ein Nô-Theater nur an bestimmten Festtagen zu geben, aber das ist im Theater der Weißen Masken anders. Sie haben einen freien Tag, ansonsten ist immer Vorstellung. Einmal im Monat gibt es am Magic Monday eine einzige Zaubervorstellung mit einem Magier. Ich vermute, das wird Cagliostro sein.«
»Magic Monday?« Torio schüttelte den Kopf. »Ihr Menschen habt einfach keinen Stil.«
Nadja ignorierte ihn. »Eine übliche Vorstellung ist in drei Teile gegliedert. Zuerst kommt ein kurzes göttliches Drama – es dauert zwanzig Minuten –, dann die Kurzvorstellung des venezianischen Magiers ...« Nadja hielt inne; ihr Mund fühlte sich trocken an, und ihr Hals schnürte sich zu. Je näher sie dem Theater kamen, desto nervöser
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