Rafflenbeul, S: Elfenzeit 14: Der Magier von Tokio
Anrichte. »Törichtes Wunschdenken.«
Nadja blieb stehen und funkelte ihn zornig an, die Hände in die Hüften gestemmt. »Warum tust du das? Warum provozierst du mich?«
Sie sahen einander lange an. Nadja versuchte, in diesen unergründlichen rotbraunen Augen Antworten auf ihre Fragen zu finden. Sie war nicht bereit aufzugeben. Der Baum hatte Torio geschickt, und sie spürte, dass es wichtig war, zusammenzuhalten. Wenn sie David und Rian befreien wollten – gegen diese Übermacht, die im Theater an dunklen Wesen und Mächten residierte –, mussten sie zusammenhalten.
Mehrere Minuten sagte niemand etwas. Im Nebenraum hörten sie, wie Mashiko sich in ihrem Bett umdrehte. Über ihnen schlug eine Tür, ein Mann und eine Frau brüllten sich an. Ein Kind weinte. Die Geräusche waren ebenso weit entfernt wie das Rauschen des ewigen Verkehrs der Stadt, das durch das geklappte Fenster zu ihnen durchdrang.
Es war Torio, der schließlich den Kopf senkte und zur Seite sah. »Warum?«, fragte er leise.
»Warum was?« Nadja starrte ihn unnachgiebig an. Torio wich ihrem Blick aus.
»Warum nennst du mich bei meinem Namen? Niemand tut das. Ich bin ein Meidling, ich bin Uragirmon. Seit meinem Verrat hat mich niemand mehr mit meinem Namen angesprochen, und dann kommst du daher und bist
nett
zu mir. Siehst mir beim Sprechen in die Augen. Nörgelst und streitest zwar auch rum, aber – du siehst in mir einen Teil dieser Gruppe. Für dich bin ich gleichberechtigt.« Der Elf schaute zu ihr hoch. Seine Augen funkelten trotzig. »Weißt du eigentlich, Nadja Halbblut, was du mir damit antust?« Langsam stand er auf. »Elfen gewöhnen sich an vieles. An Schmerz. An Schande. Ich habe mich mit meiner Rolle als Uragirmon am Hofe der Tenna abgefunden. Aber jetzt ... Warum hast du mich daran erinnert, wie es früher war? Bevor ich alles verlor? An damals, als Naburo und ich Seite an Seite durch die Wälder flogen und unsere Feinde mit Schwert und Pfeil vernichteten?«
Nadja starrte ihn sprachlos an. Daran hatte sie nicht gedacht. War Torios Verhalten nur ein schützender Panzer? Ein Wall, der sie von ihm fernhalten sollte?
Selbst wenn – sie war entschlossen, diesen Wall nun endgültig niederzureißen. Und das nicht nur für sich, David und Rian. Sie fühlte, dass auch er genau das brauchte.
»Was ist damals geschehen, Torio Falkenbruder? Was hast du getan, das so schändlich gewesen sein soll, diese Strafe zu rechtfertigen?«
Sie musste an ihren Vater denken. An Fabio Oreso, der einst Fiomha der Elf gewesen war. Er war verbannt worden, weil er eine Menschenfrau liebte. Elfen – und besonders elfische Herrscher – konnten ausgesucht grausam und engstirnig sein.
Als Torio sich dieses Mal abwandte, blieb sein Schatten Nadja weiter zugewandt und streckte die Arme bittend aus.
Also trat sie näher. »Erzähle es mir. Bitte, Torio. Es betrifft nicht nur dich und deine Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart, nicht wahr? Seitdem du und Naburo diesen Oni-Krieger gesehen habt, seid ihr verändert.«
Der Elf trat an das Wohnzimmerfester. Er stützte sich auf dem Sims ab, als habe jegliche Kraft ihn verlassen. »Es ist eine traurige Geschichte, und ich spiele wahrhaft keine Heldenrolle darin.«
Nadja ließ ihm Zeit. Sie setzte sich auf die Couch, betrachtete seinen Rücken und die feingliedrige, hochgewachsene Gestalt. Draußen setzte Regen ein. Er prasselte gegen die Scheibe, lief das Glas hinunter und perlte gegen den Rahmen.
Mit leiser Stimme begann Torio zu berichten. »Wie in so vielen Geschichten geht es um eine Frau. Kariyana-ame-no-tannaria. Das war ihr Name. Kariyana-ame-no-tannaria. Obwohl unsere Tenna mit Amaterasu, der Sonnengöttin der Menschen, verwandt ist, kann auch sie ebenso wie die Elfen nicht unbegrenzt Kinder bekommen. Genau genommen hat die Tenna immer nur ein Kind, und selbst das ist schon ein kleines Wunder. Nur eine Tochter, zu jeder Zeit. Man sagt, sie wird schwanger in der Stunde, da ihr vorheriges Kind stirbt. Das stimmt nicht, und dennoch ist eines gewiss: Unsere Herrscherin hat immer nur ein Kind. Immer ein Mädchen, eine Thronerbin. Die letzte war Kariyana und ich ihr Leibwächter. Weil ich der Beste war. Aber ich war nicht bei ihr, als die Krieger unseres Feindes, getroffen vom mächtigen Wandlungszauber eines Gottes, als Tauben in unsere Burg flogen. In jener Nacht ließ ich sie allein, und als ich ihre Schreie hörte, war es zu spät. Das Wesen, das du als Ryo kennst, hat sie zerrissen. Es war
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