Rain Song
fast fertigen Pfahl gearbeitet hatte. Jim, der neben dem Hauseingang an einer großen runden Holzmaske schnitzte, hatte nicht mal von seiner Arbeit aufgesehen. Erst als Hanna ihre Bitte vortrug, war Jim hellhörig geworden. Er hatte innegehalten und Hanna fragend gemustert. Gesagt hatte er kein Wort.
Doch zwei Stunden später hatte er vor ihrem Motelzimmer gestanden und ihr mitgeteilt, dass er bereit war, sie nach Deutschland zu begleiten und den Pfahl für das Museum zu bearbeiten. In seinem Gesicht hatte wilde Entschlossenheit gestanden. Am nächsten Morgen waren sie zusammen nach Seattle gefahren und von dort über Frankfurt nach Hamburg geflogen.
Hanna schluckte und atmete tief durch. Greg rief ihr eine Warnung zu und sie ging zur Seite, um den Männern nicht im Weg zu stehen. Mit dem Greifer lud Paul Educket die Stücke vom Hänger und den fast vier Meter langen Stamm auf eine Rampe. Greg gab ihm ein paar Dollarscheine und der Forstarbeiter verabschiedete sich von beiden.
Greg zog eine Seilwinde heran, mit deren Hilfe er den Stamm unters Dach rollte. Jeder Handgriff war präzise und genau durchdacht. Auf seinem T-Shirt zeichneten sich unter den Achseln und auf der Brust dunkle Flecken ab. Er rieb die Hände an seiner Jeans und warf einen zufriedenen Blick auf den Stamm, der nun an seinem Platz im Trocknen lag.
»Er ist groß«, sagte Hanna, »du wirst lange daran arbeiten.«
»Ja, aber dafür brauche ich bei diesem Auftrag keine abstehenden Teile einsetzen. Flügel oder lange Schnäbel müssen verzapft und geleimt werden, bevor man sie beschnitzen kann. Das braucht viel Zeit und kommt dem Auftraggeber teuer.«
Hanna hörte Greg schweigend zu. Es gefiel ihr, dass er so offen über sein Handwerk sprach. Die meisten Künstler waren schreckliche Geheimniskrämer. Auch Jim war einer, sie hatte ihm – sogar was seine Arbeit anging – alles aus der Nase ziehen müssen.
Greg deutete Hannas Schweigen falsch und sagte: »Aber das hörst du sicher nicht zum ersten Mal, oder? Manchmal vergesse ich, dass du ein halbes Jahr mit einem Holzschnitzer zusammengelebt hast.«
Sie schüttelte den Kopf. »Jim sprach nicht von seiner Arbeit. Meistens war er stumm, als wäre er selbst ein Stück Holz.«
»Und du hast dich damit zufriedengegeben?«
»Es blieb mir nichts anderes übrig. Es gab keinen Grund, ihm zu misstrauen. Ich liebte ihn. Ich hatte mich damit abgefunden, dass er nicht redete.«
Sie lief auf das Haus zu, doch Greg fasste sie an der Schulter. »Was ist, wenn wir ihn finden, Hanna, und er eine Familie hat? Kinder?«
»Ich weiß es nicht.« Sie presste die Lippen zusammen. »Ich versuche, darauf vorbereitet zu sein.«
Greg zog seine Hand zurück. Hannas Blick wanderte an der ausgeblichenen Fassade des Hauses nach oben und blieb an einem der Fenster hängen. »Kannst du mir zeigen, wo er gewohnt hat?«
»Da ist nichts mehr.«
»Aber was ist aus seinen Sachen geworden?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Greg. »Jim hat nicht viel besessen. Ich glaube, mein Vater hat alles weggegeben.«
»Weggegeben? Und wenn er irgendwann zurückkommt?« Hanna sah in Gregs Augen und fand darin ihre Frage beantwortet.
Gerade, als sie die Werkstatt verlassen wollten, bog ein nagelneuer dunkelgrüner Ford Escort auf den Hof und eine junge Frau stieg aus. Sie trug Jeans und eine hellblaue Leinenbluse, die ihren dunklen Teint betonte. Ihre langen schwarzen Locken wippten bei jedem Schritt und ihre Augen, die wie die Schalen schwarzer Muscheln schimmerten, fixierten Hanna.
Verdammt. Greg biss sich auf die Lippen. Die Begegnung war unvermeidlich gewesen, doch in diesem Augenblick hätte er gerne darauf verzichtet. Die Tatsache, dass er eine Zeder aus dem Wald geholt hatte, musste sich wie ein Lauffeuer im Ort verbreitet haben.
»Hallo Annie«, begrüßte er die Indianerin. »Lange nicht gesehen. Wie geht es dir?«
»Danke, gut«, erwiderte sie förmlich.
Greg drehte sich zu Hanna um. »Darf ich vorstellen: Annie Waata, die beste Korbflechterin von Neah Bay. Und das ist Hanna, sie interessiert sich für Hauspfähle.«
Hanna streckte der Indianerin freundlich die Hand entgegen. Annie ergriff sie mit einem erzwungenen Lächeln und ließ ihre Finger sofort wieder los.
Mit einem frostigen Blick wandte sie sich an Greg. »Du wirst wieder einen Pfahl schnitzen?«
Er nickte. »Ja, er soll vor einem Café in Portland stehen. Ich werde gleich anfangen, ihn zu entrinden, dann kannst du dir einen Teil vom Bast abholen. Die andere
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