Rain Wild Chronicles 02 - Drachenkämpfer
zuvor einen erlebt hatte. Oft hatte er sich gewünscht, dass Kalo ihn in jener Nacht einfach gefressen hätte.
»Du bist so still geworden. Woran denkst du?«
»An Greft«, gab Leftrin knapp zurück, und sie nickte.
»Es wird immer schlimmer, nicht wahr?«
»Gestern Abend, nachdem du ins Bett gegangen bist, gab es einen kleinen Streit. Greft ist gestern den ganzen Tag an Bord geblieben. Ich weiß nicht, ob seine körperlichen Veränderungen so schmerzhaft sind oder ob er nur zu entmutigt ist, um irgendwelche Anstrengungen zu unternehmen. Tats und Harrikin sind zu ihm hingegangen und haben ihm gesagt, dass sie heute sein Boot und seine Ausrüstung nehmen würden, um damit etwas Nützliches zuwege zu bringen, falls er nicht selbst auf die Jagd gehen wollte.« Er trank Tee und schüttelte den Kopf. »Er hat es so formuliert, als gehe es nur ums Boot und die Ausrüstung, aber ich glaube, dass da noch mehr mitschwang.«
»Was ist passiert?«
»Nicht viel. Sie haben sich wüste Dinge an den Kopf geworfen. Greft schien kämpfen zu wollen, doch Tats meinte, dass er keinen Kranken schlagen würde, und ist davongegangen. Das war es. Hoffe ich jedenfalls.« Wieder trank er einen tiefen Schluck. »Tats und Harrikin haben ihm gesagt, dass sie heute Morgen mit seinem Boot und seiner Ausrüstung jagen gehen wollen. Ich hoffe, dass er vernünftig genug ist, sich nicht blicken zu lassen, wenn sie sich das Boot nehmen. Wenn nicht, kommt es vielleicht zu einer Prügelei. Dann muss ich einschreiten.«
»Vielleicht sind sie auch schon aufgebrochen«, sagte Alise voller Hoffnung.
»Vielleicht, aber dann müssten wir einmal nachsehen. Lust auf einen Spaziergang, meine Liebe?«
»Danke für die Einladung, werter Herr.« Sie machte einen spöttischen Knicks und legte ihre raue Hand auf den zerschlissenen Ärmel, den er ihr mit großer Geste hinhielt. Als sie das Deck entlangpromenierten, bedachte sie mit einem Lächeln das Bild, das sie dabei abgaben. Ihr war kein einziges Kleidungsstück mehr geblieben, das nicht von Sonne und ausgiebigem Gebrauch in Mitleidenschaft gezogen worden wäre. Nur die Elderlingsrobe, die er ihr gegeben hatte, bildete eine Ausnahme, doch das lange Kleid war für das Leben an Bord eines Kahns nicht sonderlich gut geeignet. Ihr Haar war kraus und struppig geworden. Und selbst ein Straßenhändler in Bingtown hätte noch eine vornehmere Hautfarbe gehabt. Da sie ihre Stiefel für die Zeiten schonte, wenn sie an Land gehen musste, bewegte sie sich an Deck barfuß. Seit Tagen hatte sie sie nicht mehr angehabt. Noch nie hatte sie sich weniger ansehnlich gefühlt.
Und noch nie begehrenswerter. Sie sah zu Leftrin hinüber, und sogleich begegnete er ihrem Blick. Und als sie ihm in die Augen schaute, blitzte es darin verliebt auf, und sein Lächeln wurde breiter. Ja. Hier, an Deck dieses Schiffes, war sie in seinen Augen die schönste Frau der Welt. Das war ein herrliches Gefühl.
»Das Boot ist weg«, sagte sie und rief ihn damit zu ihrem eigentlichen Anliegen zurück.
»In der Tat. Nun, dann ist uns der Ärger erspart geblieben«, sagte er zufrieden.
Dann erklang Tats’ Stimme hinter ihnen: »Wo ist das Boot?«
Greft hatte das Boot samt der Jagd-und Angelausrüstung mitgenommen. Niemand wusste genau, wann er abgehauen war. Bellin erinnerte sich, dass sie ihn noch in der Küche gesehen hatte, nachdem schon die meisten ins Bett gegangen waren. Thymara überraschte es nicht. Aufgrund seiner Veränderungen schlief Greft nicht gut, und dass er nur schwer essen konnte, hatte er ihnen erzählt. Eine schnelle Sichtung der Vorräte brachte zutage, dass ein erheblicher Teil des Schiffszwiebacks und ein kleiner Topf fehlten. Mehr als alles andere überzeugte sie dieser Umstand davon, dass er nicht zum Jagen hinausgefahren war. Er hatte den Kahn verlassen, um auf eigene Faust zu reisen.
Die Reaktion der anderen Hüter erstaunte Thymara. Einige ärgerten sich, dass das Boot fehlte, und alle waren überrascht. Niemand schien sich jedoch um Grefts Wohlergehen zu sorgen. Boxter und Kase schwiegen sich eisern darüber aus, und Jerd beklagte sich in den bittersten Tönen darüber, wie selbstsüchtig es von Greft war, Boot, Ausrüstung und Zwieback mitzunehmen, »wo er doch genau weiß, dass ich alles andere nicht bei mir behalten kann«.
»Als würde sich alles nur um sie drehen«, flüsterte Sylve, die neben Thymara stand. Aber nicht leise genug, denn Jerd funkelte sie böse an und sagte mit tragischem Tonfall: »Euch
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