Rain Wild Chronicles 02 - Drachenkämpfer
Bewusstsein größtenteils auszublenden. Aber wenn sie Schmerzen empfand, ihr Hunger zu groß wurde oder sie Angst bekam, dann brachen ihre Gedanken wieder über ihn herein. Selbst wenn er ihre schlichten Geistesregungen ausblenden konnte, entkam er doch nicht ihrem beständigen Hungergefühl und ihrer Erschöpfung. Ihr trostloses Warum? hallte zu jeder Minute durch seinen Geist. Dabei half es nicht, dass er sich in Bezug auf sein eigenes Schicksal dieselbe Frage stellte. Noch schlimmer war es, wenn sie versuchte, seine Gedanken zu begreifen. Oft verstand sie nicht, dass er schlief und nur träumte. Dann stahl sie sich in seine Träume und bot ihm an, Hest zu töten oder Sedric mit ihrer Gesellschaft zu trösten. Das war gar zu seltsam. Er war müde und gleich doppelt erschöpft, weil er zum einen geweckt worden war und zum anderen ihren bedrückenden und endlosen Kampf miterlebte.
Das Leben an Bord des Kahns war für ihn sehr sonderbar geworden. So es irgend ging, blieb er in seiner Kammer, und doch genoss er keine Einsamkeit. Selbst wenn die Drachin nicht in seine Gedanken eindrang, hatte er zu viel Gesellschaft. Alise war vom schlechten Gewissen geplagt und ließ ihn nicht in Ruhe. Jeden Morgen, jeden Nachmittag und jeden Abend, bevor sie zu Bett ging, schaute sie bei ihm vorbei. Ihre Besuche waren kurz und unbehaglich. Er wollte sich das begeisterte Geplapper über ihr Tagwerk nicht mit anhören, und es gab nichts, was er ihr anzuvertrauen wagte. Doch er sah keine elegante Möglichkeit, sie zum Schweigen zu bringen und aus seiner Kabine zu schicken.
Fast ebenso schlimm war der Junge. Sedric verstand nicht, weshalb Davvie sich so für ihn interessierte. Warum konnte er ihm nicht einfach das Tablett mit dem Essen bringen und wieder verschwinden? Stattdessen kümmerte sich der Junge eifrig um ihn und war bereit, die niedrigsten Arbeiten für ihn zu verrichten. Er bot Sedric sogar an, ihm die Hemden und Socken zu waschen. Eine schauderhafte Vorstellung. Zweimal hatte er den Jungen schon angefahren – nicht gerne, aber es war die einzige Möglichkeit, ihn zum Gehen zu bringen. Jedes Mal war Davvie so offensichtlich niedergeschmettert von Sedrics Abweisung gewesen, dass dieser sich wie eine Bestie gefühlt hatte.
Er drehte die Phiole mit Drachenblut in der Hand und beobachtete, wie es selbst in der Dunkelheit der Kabine wirbelte und leuchtete. Auch wenn er die Phiole ruhig hielt, bewegte sich die rote Flüssigkeit darin wie in einem langsamen Tanz. Das Blut verströmte sein ureigenes Licht, und die Fäden unterschiedlicher Rottöne umschlangen und umgarnten sich. War er in Versuchung, und war die Faszination noch normal? Er wusste es nicht. Das Blut zog ihn an. Er hielt den Reichtum eines Königs in Händen – wenn er es nur nach Chalced schaffen konnte. Doch im Moment war es ihm vor allem wichtig, es selbst zu besitzen. Wollte er noch einmal davon kosten? Er war sich nicht sicher. Er glaubte nicht, diese Erfahrung ein zweites Mal machen zu wollen. Denn er fürchtete, dass er, wenn er diesem widerstrebenden Drang nachgeben würde, noch enger mit der Drachin verbunden wäre. Oder mit den Drachen.
Am späten Nachmittag, als er, um kurz frische Luft zu schnappen, an Deck gegangen war, hatte er gehört, wie Mercor den anderen Drachen etwas zugerufen hatte. Zwei von ihnen hatte er beim Namen genannt. »Sestican, Ranculos, hört auf zu streiten. Spart eure Kräfte, um gegen die Strömung anzukämpfen. Morgen müssen wir weiterwandern.« Sedric hatte an Deck gestanden, und die Worte des Drachen in seinen Gedanken vollkommen klar vernommen. Danach versuchte er, sich daran zu erinnern, ob sie ein Dröhnen oder Bellen begleitet hatte, aber es gelang ihm nicht. Die Drachen sprachen und diskutierten untereinander genau so, wie es Menschen taten. In sein schlechtes Gewissen mischte sich ein Schwindelgefühl. Elend und benommen war er zurück in seine Kabine getaumelt und hatte die Tür hinter sich geschlossen. »Ich kann so einfach nicht mehr weitermachen. Ich kann’s nicht«, hatte er in der Enge seiner Kammer gesprochen. Und beinahe im selben Moment hatte er gespürt, wie sich die Kupferdrachin nach ihm erkundigt hatte. Sie ahnte seine Verzweiflung und machte sich Sorgen um ihn.
Nein, alles bestens. Geh, lass mich allein! Er stieß sie von sich, und sie zog sich zurück, betrübt über seine heftige Reaktion. Ich kann so nicht weitermachen , wiederholte er und sehnte sich nach der Zeit, als er sich hatte sicher sein
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