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Raine der Wagemutige

Titel: Raine der Wagemutige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Brockway
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erfasste, als er einiges wieder erkannte. So viele Erinnerungen. Da war das blaue Kleid, das sie einmal an Michaeli getragen hatte. Ihm fiel wieder ein, wie hübsch sie ausgesehen hatte, als sie darin die Treppe hinabgeeilt kam, und wie dabei ihre gestärkten Unterröcke geraschelt hatten. Jetzt war es schlaff und gelbstichig und beherbergte eine Mäusefamilie.
    Am Fuße eines wild aufeinander geschichteten Haufens von Einrichtungsgegenständen erspähte er die Polsterbank, die vor ihrer Frisierkommode gestanden hatte, das rote Tulpenmuster in Petit-point-Stickerei verblasst und mottenzerfressen. Ihr Lieblingsfächer lag obenauf, und die bemalten Seidenfetzen hingen an den Elfenbeinstäben wie an den zerbrechlichen Knochen eines alten Skeletts.
    Alles durcheinander geworfen und weggestellt und vergessen. Kein sorgsames Zusammenlegen für Janet McClairens Sachen. Keine duftenden Lavendelzweige, um den unaufhaltsamen Verfall wenigstens zu verlangsamen . . .
    Die Tür zur Kapelle öffnete sich unter protestierendem Knarren, und Favor trat ein.
    „Also wart Ihr es doch! Ich dachte schon, dass ich hier hinten etwas gehört hatte“, verkündete sie triumphierend. „In diesem Teil der Burg gibt es einen merkwürdigen Hall, nicht wahr? Ich könnte schwören, ich habe Euer ,Verdammt!‘ noch am anderen Ende des Korridors gehört.“
    Ihre Stimme klang angeregt und fröhlich, so lebendig wie die Sachen hier tot und vergessen waren. Sie brachte die ganze Unbekümmertheit ihrer Jugend mit sich. Und sie fegte die Trauer so rücksichtslos aus seiner Seele, wie die Wellen an den Strand schlagen und die Spuren im Sand fortspülen.
    „Was tut Ihr hier?“ fragte er.
    Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute sich um. „Hier wurden die McClairen getraut und getauft und schließlich aufgebahrt“, murmelte sie. „Das Rosettenfenster dort ließ man eigens aus Paris kommen.“
    „Woher wollt Ihr das wissen?“ erkundigte er sich trocken, neugierig, wie sie sich aus der Klemme, in die sie durch ihre unbedachte und in höchstem Maß verräterische Bemerkung geraten war, wieder herauswinden wollte. Es war klar, dass sie es sich nicht leisten konnte, jemanden wissen zu lassen, dass sie eine McClairen war. Carr würde sie innerhalb einer Stunde vor die Tür gesetzt haben.
    Aber Raine hatte sie unterschätzt. Ihre wehmütige Miene verschwand. „Oh, das stand alles in den Tagebüchern und Aufzeichnungen, die ich gefunden habe“, erklärte sie leichthin. „Ach du meine Güte! Seht nur, ich glaube, das hier ist venezianische Spitze. Es ist wahrlich ein Verbrechen, dass eine solche Kostbarkeit einfach so ungeschützt herumliegt, dem Verfall anheim gestellt.“
    Das Vergnügen, das sie aus der Aufgabe bezog, zu der er sie gezwungen hatte, war so unerklärlich, wie es betörend war. Heute war der vierte Tag, an dem sie ihm half, nach dem McClairen-Schatz zu suchen, und an jedem Tag, an dem sie bei ihm erschien, strahlte sie mehr. Sollte er es jemals wagen, ihr diese Tatsache vorzuhalten, würde sie es natürlich rundweg abstreiten. Aber er bezweifelte, dass sie es vor sich selbst leugnen würde. Sie war eine talentierte Lügnerin, aber wie es mit allen talentierten Lügnern war, besaß sie die unheimliche Fähigkeit, sich selbst gegenüber aufrichtig zu sein.
    „Ihr seid früh.“ Er hatte ihr gesagt, sie solle am Mittag kommen, aber es war noch nicht einmal zehn Uhr morgens, und doch stand sie vor ihm, frisch und voller Eifer und verletzlich. So sehr, sehr verletzlich. Sie hatte keine Ahnung, welche Gedanken ihm durch den Kopf gingen.
    „Je früher man sich auf den Weg macht, desto eher kommt man an“, erklärte sie, doch das Funkeln in ihren Augen strafte die Gleichgültigkeit in ihrer Stimme Lügen. Diese verfluchte, fehlgeleitete Ritterlichkeit. Er sollte sie einfach verführen, und damit wäre die Sache erledigt. Aber das würde er nicht. Denn während er sich seiner Reaktion auf sie nur allzu sicher war, war er sich ihrer auf ihn völlig unsicher.
    Er nahm an, sie fand ihn gut aussehend. Die Erinnerungen an seinen Umgang mit dem anderen Geschlecht waren noch klar genug, um an Favors Verhalten zu erkennen, dass dem so war. Was er jedoch nicht wusste, war, was ein im Kloster erzogenes Mädchen in einem solchen Falle tat.
    Und Raine war sich auch nicht sicher, dass er dieses . . was auch immer es war, nicht gefährden wollte. Seiner Erfahrung nach war eine solche Eintracht zwischen den Geschlechtern einzigartig. Er war nie zuvor

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