Raketenmänner (German Edition)
schwarzes Haar, das ihr in großzügigen Locken bis auf die Schultern fiel. Sie hatte keinen Ring in der Nase, was ihn fast verwunderte. Ihre ganze Erscheinung wirkte, als wäre ein Piercing praktisch Pflicht.
Ritter sagte, er komme mit dem Fahrkartenautomaten nicht zurecht, obwohl das nicht stimmte. Das Mädchen lächelte. Sie habe ein Tagesticket zu verkaufen, das erst vor einer Stunde abgestempelt worden sei.
Dass sie weiter lächelte, hatte natürlich nichts mit ihm zu tun, sondern sollte ihn nur zum Kauf dieses Fahrscheins bewegen.
Wie viel das denn kosten solle, wollte Ritter wissen. Das Mädchen sagte, mit fünf Euro sei er dabei. Am Automaten kostete das Ticket sechs Euro achtzig. Sie hielt ihm das Ticket buchstäblich unter die Nase. Gelber Streifen, BVG -Schriftzug, Preis, gestempelt vor etwas mehr als einer Stunde am Bahnhof Gesundbrunnen . Wahrscheinlich hatte sie den Schein gefunden und machte ihn jetzt zu Geld. Es gab viel Elend in dieser Stadt. Woanders natürlich auch. Jeder sah zu, dass er über die Runden kam. Und Ritter hatte schon davon gehört, dass die Berliner viel Phantasie darauf verwendeten, möglichst preiswert von hier nach da zu kommen. Menschen, die sich nicht kannten, nahmen einander auf Gruppenfahrscheinen mit. Solche Geschichten halt.
Der Zug fuhr ein, Ritter musste handeln. Als er dem Mädchen die fünf Euro überreichte, fühlte er sich seltsam beschwingt. Er hatte einen Euro achtzig gespart. Nicht die Welt, aber immerhin. Als die U-Bahn die Station verließ, sah er das Mädchen zur Treppe gehen.
Zum ersten Mal seit er gestern Mittag in Berlin angekommen war, fühlte er sich gut. Das Mädchen, die Fahrkarte, die Ersparnis – das alles gefiel ihm. Nur das juckende Hemd und der juckende Anzug machten ihm noch zu schaffen.
Ein Mann in billigen Jeans riss ihn aus seinen Gedanken. Der Mann hielt ihm einen Ausweis unter die Nase und wollte tatsächlich seinen Fahrschein sehen. Ritter nahm den Schein aus seinem Portemonnaie und reichte ihn dem Kontrolleur. Der schien nachzudenken, gab Ritter den Fahrschein aber mit einem Nicken zurück. Ritters gute Laune steigerte sich fast bis zur Euphorie. Heute konnte gar nichts schiefgehen. Kaum war er aus dem Hotel und damit aus der Firma heraus, war alles gut, alles im Fluss. Da er das Portemonnaie schon wieder eingesteckt hatte, schob er den Fahrschein einfach in die Außentasche seines Jacketts.
An der Haltestelle Hermannstraße stieg er um in Richtung Schöneberg, wo er in die S-Bahn wechselte, um nach Steglitz zu fahren. Der Blick aus dem Fenster gab Ritter mal wieder die Gelegenheit, sich zu fragen, was alle an dieser Stadt fanden.
Die zweite Kontrolle bestand aus mehreren Leuten, die sehr viel bestimmter auftraten als der Mann in der billigen Jeans. Vor ihm stand eine resolute, untersetzte Frau, die ihn ein wenig an seine Halbschwester erinnerte. Ritter holte den Fahrschein aus der Jacketttasche. Dabei fiel etwas zu Boden, aber darum würde er sich später kümmern. Die Frau musterte seinen Fahrschein sehr viel intensiver als der Mann vorhin. Ganz offensichtlich wusste sie nicht, was sie davon halten sollte. Ritter wunderte sich, dass er auf der kurzen Strecke nun schon zum zweiten Mal kontrolliert wurde. Die untersetzte Frau holte ihre Kollegin herbei, eine drahtige Person mit stacheligen, blonden Haaren. Die warf nur einen Blick auf den Fahrschein und brüllte Ritter an: »Sprechen Sie Deutsch?«
Na gut, es war kein Brüllen gewesen, aber sie hatte schon sehr deutlich die Stimme erhoben.
Ritter sagte: »Natürlich!«
Ohne die Stimme zu senken, sagte die Frau: »Sind Sie Tourist?«
»Ich bin beruflich hier.«
»Touristen und russische Wanderarbeiter lassen sich gerne mal gefälschte Fahrscheine andrehen.«
»Der Fahrschein ist gefälscht?«
»Natürlich! Sehen Sie das nicht?«
»Wenn ich das sehen könnte, hätte ich ihn nicht gekauft.«
»Ja klar! Aussteigen!«
Ritter beschloss, dass es keinen Sinn hatte, zu diskutieren. Außerdem war die nächste Haltestelle Rathaus Steglitz, und da musste er ohnehin raus. Insgesamt vier Kontrollpersonen stiegen mit aus, drei Frauen und ein Mann, der eine Radfahrerin eskortierte, die ganz ohne Fahrschein erwischt worden war.
»Ihr seid keine Menschen!«, schrie die Radfahrerin. »Ihr seid verdammte Nazis!«
Ritter wollte schon einwerfen, dass die Nazis sehr wohl Menschen gewesen seien, genau das sei doch bis heute das Problem, aber er hielt sich lieber zurück. Auch der Kontrolltrupp
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