Rampensau
über ihr Herz. Was würde geschehen, wenn Dörthe niemals zurückkommen würde? Wer würde sie dann vor dem Schlachthaus bewahren? Carlo würde es bestimmt nicht tun. Im Gegenteil, immer wieder bedachte er sie mit einem gehässigen Blick, während er noch mit den Polizisten redete, die sich gleichfalls bereit machten, den Hof zu verlassen. Kim begriff nun, was der weise Bertie gemeint hatte. Indem sie auf Dörthe aufpasste, passte sie auch auf sich und die anderen auf.
»Wir müssen reden!« Plötzlich hatte Che seinen Rüssel vor ihren geschoben und fixierte sie mit seinen braunen Augen.
Sie wollte sich wortlos abwenden, aber dann sagte sie plötzlich in ihrem Kummer: »Worüber? Dass Brunst um seinen Vater trauert? Dass Doktor Pik bald sterben wird und dass du in mich verliebt bist?«
Che wich nicht zurück, und er geriet auch nicht in Wut, was für Kim eine echte Überraschung war. Müde blickte er sie an. »Darüber nicht. Obwohl alles stimmt, was du gesagt hast. Wir müssen darüber reden, wo du hingehörst – ob zu den wilden Schwarzen oder zu uns.«
Ein seltsamer Schmerz lag in seinen Augen, fand Kim, als würde die Antwort, die sie ihm gab, sehr wichtig für ihn sein.
»Ich gehöre zu Dörthe«, erwiderte sie. »Dörthe ist das Wichtigste für uns, und wir müssen sie wiederfinden.«
Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, klang aus dem Stall ein schrecklicher Lärm, der sie erzittern ließ und der es sinnlos machte, noch etwas zu sagen. Edy hatte wieder sein merkwürdiges Instrument mitgebracht. Gleichzeitig fuhr ein weißes Auto auf den Hof.
Finn stieg aus. Er lächelte und grüßte zu Carlo und den anderen herüber. Erst als er die verbrannten Reste seines Ballons sah, verdüsterte sich sein Gesicht. Er warf die Arme in die Luft und begann Carlo lautstark Vorwürfe zu machen. Worte wie »verdammter Idiot« und – ja leider – »echte Sauerei« hallten herüber.
Gleich werden sie sich prügeln, dachte Kim, nicht um den verbrannten Ballon, sondern um die verschwundene Dörthe. David Bauer ging jedoch dazwischen.
»Wenn Sie wollen, können wir Sie gleich wieder mitnehmen«, sagte er mit schneidender Stimme zu Finn.
Edy spielte noch lauter, und wenig später entdeckte Kim, dass Lunke am Durchschlupf aufgetaucht war. Er machte ein bekümmertes Gesicht, und sie begriff sofort, was das bedeutete. Die Rotte hatte Dörthe noch nicht gefunden.
Den Rest des Tages ging sie Che aus dem Weg. Sie wollte nicht mit ihm reden. Warum hatte sie ihm gesagt, dass sie wusste, dass er in sie verliebt war? Über solch ein Geheimnis durfte man niemals sprechen. Aus Kummer fraß sie so viel, dass ihr übel wurde.
»Werden die Kläffer wiederkommen?«, fragte Cecile, die ihr nicht von der Seite wich. Sie vermisste Bertie am allermeisten.
»Ich glaube nicht«, erwiderte Kim einsilbig.
Die beiden Polizisten waren ebenfalls weggefahren, während Carlo, Finn und Swara sich ins Haus verdrückt hatten. Einmal sah Kim, wie Carlo aufgeregt in seinen kleinen silberfarbenen Apparat hineinsprach. Irgendwie hatte sie das Gefühl, er plane seine Flucht. Der Kummer wich nicht von ihr. Was mochten die Männer mit Dörthe anstellen? Sie wollte es sich lieber nicht ausmalen.
»Che möchte heute Abend eine Versammlung abhalten – auf dem Erdwall«, sagte Doktor Pik zu ihr.
»Er fühlt sich wohl stark und will uns wieder in den Kampf führen«, spottete Kim.
»Du sollst dich entscheiden – entweder für uns oder für die wilden Schwarzen.« Doktor Pik blickte sie bekümmert an. »Ich konnte es ihm nicht ausreden.«
Kim nickte. Die anderen begriffen einfach nichts. Ohne Dörthe würden sie in null Komma nichts ins Schlachthaus wandern. Kaltmann, der Metzger aus dem Ort, wartete vermutlich schon auf sie. Einmal war sie mit Lunke in seiner Metzgerei gewesen; an den widerwärtigen Geruch von frischem Blut erinnerte sie sich nur allzu gut.
Nein, sie würde nicht hierbleiben, wenn Dörthe nicht zurückkehrte. Dann würde sie zu den wilden Schwarzen fliehen oder ganz allein auf Wanderschaft gehen. Vielleicht würde sie auch bei einem Zirkus unterkommen. Aber würde sie das können – vor Menschen Kunststücke vorführen?
Sie legte sich unter ihren Apfelbaum und hing trüben Gedanken nach. Der Himmel war blau wie schon in den letzten Wochen, nur ein paar Federwolken zogen vorüber. Doch das tröstete sie nicht. Vielleicht sollte sie schlafen und auf den schwebenden Bertie und seine Ratschläge warten. Als sie die Augen
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