Rampensau
Kim. Eigentlich hätte sie darüber lachen wollen, aber dann fiel ihr Dörthe ein und dass sich von der Rotte immer noch niemand gezeigt hatte, obwohl die Dämmerung längst hereingebrochen war. Das konnte nur eines bedeuten: Dörthe befand sich nicht mehr in diesem Wald, sondern weit weg, an einem Ort, wo niemand sie aufstöbern würde.
Mit einem neuerlichen Fluch verschwand Carlo im Haus. Kim rückte wieder näher zum Zaun und beobachtete, wie in Munks altem Atelier die Lichter ansprangen, erst eins, dann zwei, dann drei. Wie ein Gespenst eilte Carlo in dem weitläufigen Raum umher, lief von einer Wand zur nächsten. Er besah sich die Bilder, die dort hingen. Nach Munks Tod waren viele abtransportiert worden, doch ein paar waren geblieben. Eines zeigte eine nackte rothaarige Frau mit kantigen Gesichtszügen. Wahrscheinlich sollte das Dörthe sein, obwohl sie in Wirklichkeit viel schöner war. Auf einem anderen ritt eine Frau mit einer roten, wehenden Mähne auf einem Schwein.
Carlo berührte die Bilder mit den Fingern, tippte sie an und lief hektisch von einem zum anderen. Was sollte das? Kim konnte sich keinen Reim darauf machen. Hatte er Angst, die Bilder könnten sich von alleine bewegen oder würden vielleicht plötzlich von der Wand fallen? Sein Gesicht wirkte fahl und sehr konzentriert, als würde ihm dieses Tun große Anstrengung abverlangen. Dann trat er ganz nah an das Bild der nackten Dörthe heran. Er packte es links und rechts und hob es vorsichtig in die Höhe. Als er es ein Stück von der Wand genommen hatte, blieb er reglos stehen, den Kopf gedreht, als lauschte er, als wartete er auf irgendein Geräusch.
Dann fiel es Kim ein. Als Munk noch gelebt hatte, hatte niemand ein Bild einfach so von der Wand nehmen können. Bei der kleinsten Berührung hatte eine Sirene losgeschlagen, ein schrilles Heulen, das durch Mark und Bein ging und jeden im Haus alarmierte. Auf dieses Heulen wartete Carlo offensichtlich, doch es kam nicht. Das Bild in seiner Hand gab keinen Laut von sich.
Erleichtert ließ er das Bild zu seinen Füßen niedersinken und wischte sich über die Stirn.
Einen Moment später wurde im Atelier das Licht gelöscht, und Carlo trat ohne das Bild auf den Hof. Er schaltete eine Lampe über der Eingangstür an und lief auf Finn und Swara zu. Vorsichtig legte er den Kopf der blonden Frau zurück, umfasste sie und hob sie sich auf die Arme. Swara zeigte keine Regung. Ihr Kopf fiel auf ihre Brust, sie räkelte sich lediglich, als fühle sie sich in Carlos Armen wohl. Leise schnaufend schritt Carlo über den Hof in Richtung Stall. Er würde Swara in ihr Zelt verfrachten, damit sie nicht merkte, dass sie plötzlich eingeschlafen war.
Nach einiger Zeit, die Kim endlos vorkam, tauchte Carlo wieder auf. Mit dem schlafenden Finn ging er weniger zimperlich um. Wie es Mats mit dem weißhaarigen Toten gemacht hatte, lud er ihn sich auf die Schulter und schwankte unter seiner Last laut stöhnend zum Haus. Finn murmelte einige unverständliche Worte vor sich hin, öffnete jedoch ebenfalls nicht die Augen. Wie tief die Menschen schlafen konnten! In einem Fenster im oberen Geschoss ging wenig später ein Licht an. Kim sah als Schattenspiel, wie Finn von der Schulter genommen auf ein Bett rutschte. Dann versank das Haus in Dunkelheit.
21
Wie lebende Tote lagen die Schweine auf der Wiese; das heißt, sie zuckten gelegentlich mit den Beinen, aber sonst zeigten sie keinerlei Regung und nahmen nicht das Geringste wahr. Vollkommen wach verharrte Kim auf dem Erdwall. Während sie sich nach allen Seiten umschaute, hatte sie das Gefühl, ganz allein auf der Welt zu sein. Alle Dinge um sie, nicht nur die Schweine und Menschen, schienen in einen tiefen Schlaf versunken zu sein, aus dem sie vielleicht nie mehr aufwachen würden. Eine Ahnung sagte ihr, dass auch Lunke in dieser sonderbaren Nacht nicht auftauchen würde. Als sie einmal kurz die Augen schloss, sah sie ihn mit wirrem Blick und heraushängender Zunge durch den Wald rennen, er hielt seinen Rüssel in die Höhe, in der vagen Hoffnung, irgendetwas von Dörthe zu wittern, doch er witterte nichts.
Kim wartete auf die Sternschnuppen. Sie waren ihre letzte Hoffnung. Man darf sich etwas wünschen, wenn man sie sieht, hatte der schwebende Bertie gesagt.
Mit einem Mal war der Himmel voller Sterne, voller winziger, funkelnder Punkte, doch keiner bewegte sich. Kim war fasziniert. Sicher, sie kannte den Mond, der sich ständig veränderte, und andere, viele kleinere
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