Rampensau
Himmelslichter, doch noch nie hatte sie so intensiv das Firmament betrachtet. Waren diese Lichter lebende Wesen, die eine Bedeutung hatten? Hielt sich Bertie irgendwo hinter diesen Lichtern auf? Ihr schwirrte der Kopf vor so vielen Lichtern. Oder vielleicht lag es auch an den Fragen, die sie sich stellte.
Dann meinte sie sogar, mit den Sternenlichtern klinge Musik durch die Nacht – leise, hauchzarte Klänge, als lösten sich winzige Wassertröpfchen von Blättern und sanken singend zu Boden. Aber das konnte nicht sein – es hatte seit Wochen nicht mehr geregnet. Oder waren diese Lichter nichts anderes als gleißend helle Tropfen, die zur Erde fielen – ein Sternenregen, der auf sie herabprasseln wollte, sie jedoch nicht erreichte.
Sie spürte, dass sie mit offenem Maul dasaß und aufgeregt von dem Schauspiel über ihr ein- und ausatmete. Die anderen, die betrunken auf der Wiese lagen, hatte sie vergessen, auch an Lunke dachte sie nicht mehr.
Und dann geschah es: Ein winziges Licht raste über den Himmel und zog einen gleißenden Schweif hinter sich her.
Kim empfand ein ungeheures Glücksgefühl und hätte beinahe aufgeschrien. Im letzten Moment, kurz bevor die Sternschnuppe sich auflöste und im Nirgendwo verschwand, flüsterte sie ihren Wunsch: »Ich möchte, dass Dörthe wohlbehalten zurückkehrt.«
Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, glitt ein zweites Licht rasend schnell über das Firmament. Hastig stieß sie einen weiteren Wunsch aus. »Möge Doktor Pik noch einen weiteren Sommer bei uns bleiben!«
Dann begannen sich zwei andere Lichtpunkte zu bewegen. Gebannt schaute Kim zu, wie sie Fahrt aufnahmen. Fast war es, als wollten sie genau auf sie zurasen. Ein weiterer Stern löste sich aus seiner Starre. Wünsche? Hatte sie noch Wünsche? Sie dachte an Lunke, an Che, an Brunst und Cecile. Ihnen sollte es auf ewig gut gehen!
Weitere Lichter sprangen über den Himmel. Es war wie ein wilder Tanz der Sterne. Kim wandte unaufhörlich den Kopf, um neue herumwirbelnde Lichter zu entdecken.
Plötzlich hörte sie Berties fröhliche Stimme: »Schön, nicht wahr?«, hauchte er ihr zu.
»Ja, wunderschön«, flüsterte sie glücklich zurück.
Vor lauter Sternschnuppen kam sie mit dem Wünschen gar nicht mehr nach. Kreuz und quer rauschten die Lichter am Himmel entlang, schlugen Volten, drehten sich wie um sich selbst und verglühten im Irgendwo. Doch kaum war eine Sternschnuppe erloschen, tauchte eine andere auf und verzauberte die Nacht.
Kim war gebannt von diesem Schauspiel. Nichts existierte mehr – nur sie und diese wunderbaren tanzenden Lichter.
Dann, während sie hechelnd und erschöpft dahockte, kroch ein erster zarter Sonnenstrahl über den Horizont, und das Spiel der Sternschnuppen endete abrupt. Konnte es sein, dass es schon Tag wurde? Wie lange hatte sie so staunend dagesessen?
Im ersten Sonnenlicht sah Kim, wie sich die Schweine eines nach dem anderen aufrichteten und beschämt und ohne einen Blick für sie in den Stall zurückschlichen. Erst Che, der noch ziemlich unsicher auf den Beinen war, dann Brunst, der unentwegt leise rülpste, dann Doktor Pik, der immerhin so mutig war, ihr einen kurzen Gruß zuzuraunen. Allein Cecile blieb schlafend auf der Wiese zurück.
»He«, wollte Kim ihnen nachrufen, noch völlig trunken von dem Schauspiel am Himmel, »wisst ihr, was ich gesehen habe? Sternenschnuppen, nichts als Sternenschnuppen, und nun bin ich fast wunschlos …«
Plötzlich bemerkte sie eine Gestalt, die sich ihr näherte. Lunke trottete heran. Er hatte den Kopf eingezogen, was gar nicht seine Art war, und zeigte immer noch ein bekümmertes Gesicht.
Wie kann man in einer solchen Nacht nicht glücklich sein?, dachte Kim, doch dann fiel es ihr ein. Dörthe – Emma und die Rotte hatten die ganze Zeit nach ihr gesucht und sie nicht gefunden.
»Wir waren überall«, sagte Lunke, ohne jede Begrüßung. Er sank neben ihr zu Boden, streckte die Beine und stöhnte, als habe er Schmerzen. »Haben den ganzen Wald abgesucht. Wir hätten sie gefunden, wenn sie …« Er verstummte und blickte mutlos vor sich hin.
Kim nickte. Ihre Euphorie, die sie eben noch gefühlt hatte, zerstob. Dörthe war verschwunden – die Männer hatten sie ganz woanders hingebracht, jenseits des Waldes, wo niemand sie finden konnte.
»Es tut mir leid«, fügte Lunke hinzu.
Kim rieb ihren Kopf an seinem. »Danke, dass ihr es versucht habt«, sagte sie leise. So niedergeschlagen hatte sie ihn noch nie
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