Rampensau
gestellt. Eine Antwort war sie allerdings meistens schuldig geblieben.
Lunke blieb ein wenig zurück. »Nun hast du einen Blick auf die Festung geworfen – wie du wolltest«, meinte er unwillig. »Der Zaun ist zu hoch, und es ist auch niemand zu sehen. Ich finde, wir sollten jetzt wieder verschwinden.«
»Gleich«, sagte Kim. Sie schritt so nah an den Zaun heran, dass sie ihn mit dem Rüssel berühren konnte. Der Draht war alt und verrostet, doch ziemlich scharf. Lunke hatte recht, so einfach würde man hier nicht hereinkommen, aber sie müsste es versuchen. Der Duft von Zigaretten wurde noch intensiver.
»Ich hoffe, du vergisst dein Versprechen nicht wieder«, meinte Lunke nörgelig. »Dass wir im See baden, heute, morgen und den Tag danach.«
Kim achtete nicht weiter auf ihn. Aufmerksam strich sie an dem Zaun entlang. Auf der anderen Seite war der Boden mit Betonplatten bedeckt, aus dem Gräser und kleine Bäume wuchsen und auf dem man keine Spuren finden konnte. Zwei rostige olivgrüne Autos standen da, an denen ebenfalls die Fenster kaputt waren, dann noch ein anderes rostiges Ungetüm, aus dem ein langes Rohr starrte und sie anblickte. Hier stank es überall ekelhaft nach Öl. Glasscherben lagen herum. Hinter den rostigen Autos befand sich eines der langgestreckten grauen Gebäude. Kim erkannte, dass an einer Stelle das Dach eingestürzt war. Der Geruch von Zigaretten verlor sich – sie lief demnach in die falsche Richtung. Hier hatten sich in letzter Zeit keine Menschen aufgehalten.
»Da«, sagte Lunke leise. Er stand plötzlich hinter ihr. »Da, aus dem kaputten Dach fliegen die Blutsauger heraus, wenn sie auf die Jagd gehen. Hat meine Mutter jedenfalls gesagt.«
»Ja«, erklärte Kim abwesend. Irgendetwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie hob den Rüssel hoch und kniff ihre Augen zusammen.
»Wir sollten jetzt wirklich gehen«, quengelte Lunke. »Ich war die ganze Nacht auf den Beinen, und wer weiß, ob nicht doch noch Blutsauger auftauchen, und wenn sich zwei oder mehr auf uns stürzen …«
Feigling!, wollte sie ihm zuraunen, doch im nächsten Moment begriff sie, was sie so irritiert hatte. Ihr Herz tat einen kräftigen Stoß. Hinter der kaputten Scheibe direkt vor ihnen blinkte etwas knallgelb auf. Diese grelle Farbe hatte Kim bisher erst an einem Ding gesehen.
»Lunke«, sagte sie mit einem Hochgefühl und hätte ihm am liebsten über den Rüssel geschleckt, »ich glaube, wir haben Dörthes Kabriolett gefunden.«
22
Lunke teilte ihre Begeisterung überhaupt nicht, ganz im Gegenteil.
»Wie schön«, sagte er, »dann weißt du jetzt ja Bescheid. Ich schlage trotzdem vor, dass wir jetzt wieder gehen. Die Blutsauger machen keinen Spaß, wenn sie …«
Sie baute sich vor ihm auf und schaute ihm in die Augen.
»Lunke«, sagte sie streng, »lass mich für einen Moment mit deinen Blutsaugern in Ruhe. Jede Mutter erzählt ihren Kindern Schauergeschichten, um ihnen Angst einzujagen. Meine hat immer von einem schwarzen Raben zählt. ›Pass auf, gleich holt dich der schwarze Rabe.‹« Sie ahmte die viel tiefere ungeduldige Stimme ihrer Mutter nach. Kurz spähte sie zum Himmel und hoffte, dass Paula sie da oben nicht irgendwo gehört hatte.
»Der schwarze Rabe?« Lunke kniff die Augen zusammen. »Du meinst wirklich, meine Mutter hat mich angelogen …«, aber Kim hatte sich bereits wieder zum Zaun umgedreht. Kein Zweifel, aus dem kaputten Fenster blinkte es grellgelb herüber. In der Dunkelheit hatten Emma und die Rotte das nicht bemerkt, oder sie hatten es gar nicht gewagt, sich der Festung so weit zu nähern.
»Wir haben eine erste Spur«, sprach Kim nachdenklich vor sich hin. »Nun müssen wir nur noch herausfinden, wie wir auf das Gelände gelangen können, um Dörthe aufzuspüren und zu befreien.«
»Du willst tatsächlich …« Lunke schnaufte entrüstet.
Kim lächelte ihn süßlich an. »Ja, klar, ich will mich umsehen. Auch wenn ich nur ein kleines rosiges Hausschwein bin«, fügte sie hinzu, um ihn herauszufordern.
Ohne eine Antwort abzuwarten, lief sie am Zaun entlang, genau in die Richtung, aus der sie den Geruch von Kaffee und Zigaretten erwartete. Als sie über die Schulter blickte, sah sie, dass Lunke wahrhaftig zögerte, ob er ihr folgen sollte.
Komm schon, Lunke, flüsterte sie stumm, lass mich jetzt nicht im Stich.
Würde sie es wagen, allein auf das Gelände vorzudringen? Plötzlich war ihr mulmig zumute, nicht wegen dieser fliegenden Mäuse, vor denen hatte sie keine
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