RAMSES 1 - Der Sohn des Lichts
beteuerte
Chenar. »Wir haben einander nur zu oft die Stirn geboten, daran trägt jeder von
uns beiden Schuld. Dieser Bruderkrieg ist sinnlos geworden. Du bist der Regent
und ich der Oberste Zeremonienmeister. Arbeiten wir Hand in Hand zum Wohle
unseres Landes.«
Ramses war verwirrt, als Chenar gegangen war. War das
nur wieder eine Falle, ein neuer Schachzug, oder war der Bruder diesmal
ehrlich?
VIERZIG
der grosse thronrat versammelte sich gleich im Anschluß an die Feier der
Morgenrituale. Die Sonne stach, jeder suchte nach Schatten. Dicke Schweißtropfen
verunstalteten so manchen übergewichtigen Höfling, der sich befächeln ließ,
sobald er sich bewegen mußte.
Der Audienzsaal des Königs allerdings war wohltuend
kühl, denn die geschickte Anordnung der hohen Fenster gewährleistete eine
Durchlüftung, die den Raum angenehm machte. Der König, der sich um die Mode
nicht scherte, trug ein schlichtes weißes Hemd, während etliche hohe
Amtsinhaber geradezu wie Gecken wirkten. Der Wesir, die Hohenpriester von
Memphis und Heliopolis sowie der Oberste der Wüstenwachmannschaften nahmen
ebenfalls teil an dieser außergewöhnlichen Ratsversammlung.
Ramses, der zur Rechten seines Vaters saß, musterte
sie alle. Furchtsame, Sorgenvolle, Eitle, Maßvolle, kurz, die verschiedensten
Arten von Menschen waren hier versammelt unter der Oberherrschaft des Pharaos,
der allein den Zusammenhalt sicherte. Sonst hätten sie sich gegenseitig wohl
zerfleischt.
»Der Oberste der Wüstenwachmannschaften bringt
schlechte Nachricht«, verkündete Sethos. »Er möge sprechen.«
Der hohe Beamte, der jetzt etwa sechzig Jahre alt war,
hatte seine Laufbahn zielstrebig Schritt für Schritt verfolgt, bis er an der
Spitze angelangt war. Er war ein besonnener, erfahrener Mann, der jeden Pfad
der westlichen und östlichen Wüste kannte und in diesen unendlichen Weiten die
Sicherheit der Karawanen und Steinbrucharbeiter gewährleistete. Er strebte
nicht nach Ruhm und Ehre und bereitete sich allmählich auf einen ruhigen
Lebensabend auf seinem Gut bei Assuan vor. Man lauschte seinen Worten mit
großer Aufmerksamkeit, zumal er in diesem feierlichen Rahmen sehr selten zu
Wort kam.
»Die Goldgräber, die vor einem Monat in die östliche
Wüste aufbrachen, sind verschwunden.«
Diese haarsträubende Aussage löste langes Schweigen
aus. Ein von Seth geschleuderter Blitz hätte nicht wirkungsvoller sein können.
Schließlich erbat der Hohepriester des Ptah das Wort, das der König ihm
gewährte. Im großen Thronrat sprach man nur mit Zustimmung des Herrschers, wie
man auch einen Redner nie unterbrach. Das Vorgetragene mochte noch so
fragwürdig sein – darauf mit einem Gewirr von Stimmen zu antworten, die
Mißklang erzeugten, war streng verboten. Wollte man zu einer gerechten Lösung
gelangen, hatte man zuerst einmal den Gedanken des anderen zu achten.
»Kannst du dich für diese Auskunft verbürgen?«
»Ja, leider. Im allgemeinen erhalte ich fortlaufend
Kunde von den Fortschritten, Schwierigkeiten oder gar Mißerfolgen derartiger
Expeditionen, und nun bin ich seit mehreren Tagen ohne Nachricht.«
»Ist so etwas noch niemals vorgekommen?«
»Doch, in unruhigen Zeiten.«
»Könnte es einen Beduinenüberfall gegeben haben?«
»Sehr unwahrscheinlich in dieser Gegend, die von
meinen Leuten streng überwacht wird.«
»Unwahrscheinlich oder unmöglich?«
»Kein uns bekannter Stamm konnte diese Goldgräber, die
von erfahrenen Wachen begleitet und geschützt waren, angreifen und zum
Schweigen bringen.«
»Wie lautet deine Vermutung?«
»Ich habe keine, bin aber äußerst besorgt.«
Das Gold der Wüsten war für die Tempel bestimmt.
Dieses unvergängliche, ewiges Leben verheißende Erz, »Fleisch der Götter«,
verlieh den Kunstwerken von Menschenhand einen unvergleichlichen Glanz.
Außerdem diente es als Zahlungsmittel für eingeführte Waren wie auch als
Gastgeschenk für Herrscher anderer Länder. Die Gewinnung dieses Edelmetalls
durfte unter keinen Umständen behindert werden.
»Was schlägst du vor?« fragte der Pharao den Mann.
»Wir sollten nicht länger abwarten und die Armee
losschicken.«
»Ich übernehme die Führung, und der Regent wird mich
begleiten«, verkündete Sethos.
Die hohe Ratsversammlung begrüßte diese Entscheidung.
Chenar, der wohlweislich keinerlei Einspruch erhoben hatte, ermunterte seinen
Bruder und versprach, gewisse Amtsgeschäfte schon einmal vorzubereiten, denen
er sich dann nach seiner Rückkehr
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