Raphael
er damit hatte. Ich muss um jeden einzelnen Schritt kämpfen, da das Messer mein Rückgrat verletzt hat und meine Beine derzeit eher selten das machen, was sie sollen.
Ich kann zwar auf eigenen Füßen stehen und seit ein paar Tagen auch laufen, aber beides nur mit äußerster Kraftanstrengung. Eigentlich sollte ich froh sein, dass ich es überhaupt kann und nicht mein übriges untotes Leben im Rollstuhl verbringen muss, wie es bei einem Mensch jetzt der Fall wäre. Trotzdem ärgert es mich, dass ich im Moment so sehr auf Hilfe angewiesen bin.
Und dass Raphael mich heute hierher geschleppt hat, obwohl er genau weiß, wie schwer mir das Laufen fällt, ist meiner schlechten Laune nicht sonderlich zuträglich.
Damit ich mich langsam an das Stehen und Gehen gewöhne, sagte Setjan, als ich ihn fragend anschaute, während die zwei mir beim Anziehen halfen. Nicht mal das kann ich zurzeit allein. Setjans Arzt hat mir erklärt, was passiert ist und es wird mindestens noch weitere vier Wochen Zeit und viel altes Vampirblut brauchen, bis ich wieder die komplette Kontrolle über meinen Körper habe. So wie ich hier in der Dunkelheit herumstolpere, scheint das aber eher ein Wunschtraum von diesem Arzt zu sein, als die baldige Wirklichkeit. Ich werde seinen Worten jedenfalls erst Glauben schenken, wenn ich ohne Schmerzen laufen kann.
Ich bleibe an einer etwas überstehenden Baumwurzel hängen und Raphael greift zu, um zu verhindern, dass ich stürze. „Geht es?“, fragt er leise.
„Ja“, antworte ich, richte meinen Blick aber lieber auf den Boden. Noch so ein Hindernis und ich liege auf der Nase. Meine Kräfte lassen auf diesem unebenen Boden schneller nach, als mir lieb ist. „Wo sind wir?“
„Fast da“, antwortet er nichtssagend. Typisch.
Allerdings sind die Zeiten vorbei, in denen ich mich mit solchen Aussagen zufriedengegeben habe. Der Tod meines Vaters hat einiges bei mir verändert, vor allem in meinem Verhalten. Ich weiß, dass Raphael und Setjan sich die ersten Tage häufig darüber unterhalten haben, weil ich anfing zu widersprechen, wenn mir etwas nicht passte, oder nachzufragen, wann immer sie versuchten, die Schwere meiner Verletzungen herunterzuspielen.
Nein, ganz so unsterblich, wie gerne behauptet wird, sind Vampire nicht.
„Raphael? Wo sind wir?“
Er seufzt nachgebend. „Das hier ist ein alter Friedhof. Wir müssen da vorne rechts um die Ecke, dann sind wir da. Schaffst du es noch?“
Ich ignoriere seine Frage. Eher sterbe ich wirklich, als dass er mich tragen muss. Das hat er in den vergangenen Wochen einmal zu oft getan. „Ein Friedhof? Findest du das nicht ein wenig klischeehaft?“ Raphael lacht nicht, er grinst nicht mal, stelle ich nach einem Seitenblick fest, also ist ihm die Sache wichtig. Ich werde mich in Geduld üben müssen.
Bei den letzten Metern muss er mir dann doch helfen, und als er meinen Arm loslässt, bin ich dermaßen fix und fertig, dass mir erst nach einigen Minuten auffällt, dass wir vor einem frischen Grab stehen, welches von einem hohen, weißen Stein geziert wird. In der oberen rechten Seite ist eine Rose eingraviert. Ein schönes Grab. Mein Blick fällt auf die eingravierten Namen und Daten.
'William McAllister & Christopher McAllister
Geliebter Vater, geliebter Bruder
Ich vermisse euch.
Caine'
Das hat er nicht getan. Nicht Raphael. Wieso sollte er auch? Ob Setjan ...? Aber er hätte noch weniger Grund, so etwas für mich zu tun.
Raphael legt behutsam eine Hand auf meine Schulter und beantwortet damit meine unausgesprochene Frage. Er hat das für mich getan, und obwohl ich es nicht will, kann ich die Tränen nicht aufhalten, die sich langsam und stetig den Weg über mein Gesicht bahnen. Niemals hätte ich Raphael so eine ehrliche und gefühlvolle Geste der Zuneigung zugetraut.
„Warum?“, will ich von ihm wissen, während ich mir trotzig die Tränen von den Wangen wische und dabei auf das Grab starre.
„Weil es dir wichtig ist“, antwortet Raphael leise und bestimmt. „Von dem Augenblick an, als du mich daran gehindert hast, Chris im 'Bizarre' anzugehen, wusste ich, dass es Ärger geben würde. Das wusste ich an sich schon früher, aber an diesem Abend ist es mir richtig bewusst geworden. Du bist anders, Caine, deswegen wählte ich dich aus. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass du tatsächlich zu deinen Sterblichen zurückgehen würdest. Mein Fehler. Ich habe dich von Anfang an unterschätzt. Dabei hätte ich es besser wissen und dich
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