Rapunzel auf Rügen: Roman (German Edition)
versuchte ein erbärmliches Aussehen vorzutäuschen. Wofür und ob das einen Sinn hatte, wusste ich noch nicht. In einer zusammengesunkenen Haltung winkte ich dem Bestattungsboot zu. Dabei scharrte ich nervös kleine Steinchen vom Steg. Ob meine Servicekollegen dichtgehalten hatten?
Ich schob mir ein Pfefferminz zwischen die Zähne und begab mich aufs Schiff. Keinesfalls wollte ich, dass Brömme oder irgendwer meine abklingende Rieslingfahne wahrnahm.
»Es tut mir sehr leid, Herr Brömme«, sagte ich mit herausgepressten Tränen. »Aber ich hatte diesen Migräneanfall letzte Nacht, der mich völlig ausgehebelt hat.«
Brömme musterte mich skeptisch. »Migräne also, was?«
»Ja.« Inständig hoffte ich, dass er mich nicht nach spezifischen Symptomen abfragte oder dergleichen. Ich hatte auch keine Ahnung, wie ich ausgerechnet auf diese Krankheit kam.
Brömme nickte verständnisvoll. »Böse Sache, diese Migräneanfälle. Ich habe es von meiner Mutter geerbt und leide seit frühester Jugend darunter.«
Migräne war also das Zauberwort. »Sie sehen mir aber noch nicht fit aus«, fing er an, mich in eine Migräne-Skala einzuordnen. »Ihre Augen sind stark gerötet, und von einem klaren Blick sind Sie meilenweit entfernt.«
Bin ich das? Ich senkte ehrfürchtig meinen Kopf. »Eine halbe Schicht wird es schon gehen.«
Wie hatte ich annehmen können, dass Claudia mich bei der Arbeit mit ihrer Neugierde verschonen würde? Obschon ich ihr aus dem Weg ging, verfolgte sie mich regelrecht.
»Da gibt es nichts zu erzählen!«, wehrte ich ihre Frage ab.
»Nichts zu erzählen?«, wiederholte sie sarkastisch. »Und der Knutschfleck hinter deinem Ohr ist vom Migräneanfall?«
Knutschfleck? Erschrocken griff ich mir in den Nacken. »Quatsch! Das ist nur Farbe von der Nackenrolle. Billiges Ding aus China.«
Claudia klatschte in die Hände. »Ich hab’s gewusst!« Wie ein wild gewordenes Rumpelstilzchen hüpfte sie um mich herum. »Ihr habt es getrieben!«
Woher wusste sie? Sie hatte echt das Zeug zur Hexe, zumal sie mit Wahrsagen wesentlich mehr verdienen konnte. Ich schüttelte entsetzt den Kopf. »Das ist ja wohlnicht dein Ernst! Nur wegen eines Farbabdrucks im Genick?«
»Reingelegt!«, jubelte sie.
Wie reingelegt? Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte. Immerhin klafften einige Jahre zwischen uns, plus jenen, wo ihr blond geziertes Hirn mit der Entwicklung aufgehört hatte. Und gerade, als ich mich in der Toilette vorm Spiegel verrenkte, kam Ortrud hineingestürzt.
»Weg da! Ich brauche schnell den Wischer«, fluchte sie. »Und überhaupt, was steht ihr hier rum?« Dann schnappte sie sich die Deluxe-Ausgabe von Vileda und huschte wieder hinaus. Ich zog es vor ihr zu folgen, zumal ich damit auch den nervigen Anspielungen von Claudia entkam.
Viele Köche verderben den Brei
Einige Tage später …
Brömme sah an diesem sonnigen Morgen anders aus. Irgendwie sympathischer. Er stand auf Deck und telefonierte. Als er mich sah, nickte er zum Gruß und gab mir undefinierbare Handzeichen in Richtung Bordküche. Ich tat so, als hätte ich verstanden. Keineswegs wollte ich ihn explizit darauf ansprechen und mir vielleicht unnötig Sonderarbeit einhandeln. Antonio war an seinem letzten Arbeitstag überpünktlich und faltete Servietten. Mit geschickter Hand formte er einen Fächer nach dem anderen.
»Sag mal, was ist denn mit Brömme los?«, fragte ich.
Er schob mich beiseite, um die Mundtücher zu platzieren. »Brömme sagt, dass heute einer von uns in die Küche muss. Wäre gut, wenn du das übernimmst.«
»Ich? Wieso das denn? Was ist denn mit dem Koch?«
»Hand gebrochen«, erwiderte er kurz und knapp. Und auch mein fragendes Gesicht animierte ihn nicht zu einer weiteren Erklärung. Gewiss zählte er insgeheim die letzten Stunden, was mir plausibel erschien. Ich zog es vor, mich selbst zu überzeugen, und blickte in die Küche. Als der Koch mich sah, winkte er mich hinein. Sein linker Arm steckte in einer Gipsschale, auf die irgendwer einen Hai gemalt hatte. Einen Hai!
»Was ist denn passiert?«, fragte ich, während ich schon wieder darüber nachdachte, ob diese Biester mit Doppelzahnreihe auch bis nach Rügen schwimmen würden, wenn der Hering anderswo knapp würde. Aber statt zu antworten,schob er mir eine Schale Dessert zu. »Hier, probier mal.«
Ich probierte von der Köstlichkeit und verdrehte die Augen. »Hm … was ist das?« Es schmeckte wie eingesüßter Sauerrahm, dem Obststücke beigemengt waren.
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