Rasheed, Leila
könnte sie ihn fragen, was es mit dem Indischen Nationalkongress auf sich hatte. Aber er war mit seiner Aufmerksamkeit ganz bei Fiona, die mit ihm lachte und flirtete.
Plötzlich spürte sie den Atem ihres Tischnachbarn auf ihrer Wange. »Ada – es tut mir leid«, flüsterte ihr Michael eindringlich ins Ohr. Sie sah ihn erschrocken an. Seit Georgianas Unfall war er recht kleinlaut und schweigsam gewesen, und auf einmal begriff Ada, warum.
Sie sah ihm in die Augen. »Wenn ich den Verdacht hätte, dass du sie zu diesem Sprung herausgefordert hast …« Sie ließ den Satz in der Luft hängen. »Aber ich weiß, wie eigensinnig Georgiana ist. Es war wohl ihre eigene Schuld – und sie hat ja keinen bleibenden Schaden davongetragen, wie der Arzt so schön sagt«, fügte sie mit einer sanfteren Stimme hinzu. Michael sah wirklich mitgenommen aus.
»Ich weiß, wie sehr du dich um sie sorgst«, sagte er. »Du musst ganz schön wütend auf mich sein.«
»Ein bisschen«, gab Ada zu. »Georgie und ich, wir haben ja niemanden sonst außer uns beiden, verstehst du.«
»Ich wünschte, ich hätte ein genauso enges Verhältnis zu meinem Bruder und meiner Schwester«, sagte Michael. Er blickte zum anderen Ende des Tisches, wo Charlotte mangels eines Tischnachbarn, mit dem sie hätte flirten können, mit ihrer Mutter über die neuesten Fortuny-Kleider plauderte. »Sebastian ist ein netter Kerl, aber wir haben nichts gemeinsam. Und Charlotte … Also, ehrlich gesagt hätte ich lieber Georgie zur Schwester.«
Ada zögerte. Ihr erster Impuls war, ihm ihr tiefstes Verständnis auszudrücken, aber das wäre lieblos gegenüber Charlotte gewesen. Was hatte sie ihr denn wirklich vorzuwerfen? Dass sie eine kühle Art hatte, dass sie sich mehr für Kleider und fürs Flirten interessierte als für Bücher und Kunst?
»Aber Georgie ist jetzt doch deine Schwester«, sagte sie schließlich. »Und ich auch, Michael – wir freuen uns übrigens beide sehr darüber.«
Sie lächelte ihn an, überrascht und gerührt, wie viel Dankbarkeit und Wärme ihr in seinem Blick entgegenschlugen. Armer Junge, dachte sie, er ist nur einsam. Sie wünschte, sie hätte nicht so vorschnell über ihn geurteilt. Georgiana hatte da doch tiefer geblickt – sie selbst war viel zu sehr mit Ravi beschäftigt gewesen. Aber der war jetzt in London, sogar noch weiter entfernt als Oxford.
»Papa!« Ada nutzte eine Gesprächspause. »Weißt du etwas über einen Mann namens Tilak, der in Indien im Gefängnis sitzt?«
Ihr Vater runzelte die Stirn. »Wo hast du von Tilak gehört?«
Ada sah, wie alle am Tisch die Augen auf sie richteten.
»Oh … in der Zeitung. Da stand, er hätte etwas mit dem Indischen Nationalkongress zu tun.« Sie bemühte sich um einen beiläufigen Ton.
»Hm«, machte ihr Vater. »Ich rate dir, dich nicht weiter mit ihm zu befassen. Tilak leitet den extremen Flügel des INC, der vor Gewalt gegen uns nicht haltmacht.«
»Oh«, hauchte Ada. Ihr wurde ganz anders.
»Ich bin durchaus dafür, dass Inder eine gewisse Rolle in der Regierung ihres Landes spielen, aber Tilak ist ein gefährlicher Mann«, fuhr ihr Vater fort.
»Ada ist ganz blass geworden«, bemerkte Charlotte. »Deshalb lese ich nie Zeitung, das schadet dem Teint ganz grässlich.«
»Das hast du nun davon. Was gibst du dich auch mit so unangenehmen Dingen ab?«, maßregelte Fiona sie streng.
Ihr Vater sah Ada besorgt an. »Lass dich davon nicht beunruhigen. Tilak und sein Mob sind sehr weit weg, und ich zweifle nicht daran, dass sie bald jede Unterstützung verlieren, wenn die Leute sehen, dass die indische Unabhängigkeit einfach nicht machbar ist.« Lächelnd fügte er hinzu: »Außerdem möchte ich etwas ankündigen, das deine Gedanken sicher in eine andere Richtung lenken wird.« Er wechselte einen Blick mit Fiona, die ebenfalls lächelte.
»Was ist denn, Onkel?«, fragte William.
»Gleich nach Weihnachten werden wir die Mädchen nach London bringen. Fiona hat mich überzeugt.«
»London!«, rief Ada. Das war nicht weit von Oxford – näher an Oxford jedenfalls als Somerton. In Ravis Nähe.
»Ausgezeichnet. Für meinen Geschmack ist ein Ausflug in die Stadt längst überfällig«, sagte William und setzte sich auf.
»Nicht du, William«, sagte Lord Westlake streng. William sah ihn verblüfft an. »Ich finde, du hast mehr als genug Zeit in London verbracht. Als Somertons Erbe solltest du mehr über die Güter lernen, die du verwalten wirst. Du kannst dich auch um Georgiana
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