Rasheed, Leila
Charme gründete auf ihrer Munterkeit und Raffinesse; beides blieb auf der Strecke, wenn sie einen Wutanfall hatte. Leider hatte sie viele Wutanfälle. Auf keinen Fall durfte man Lord Fintan gestatten, Ada und Charlotte aus nächster Nähe miteinander zu vergleichen. Fiona hatte mehrmals ihre Diamanten verpfänden müssen; dabei hatte sie von dem verständnisvollen Experten gelernt, dass man nie einen falschen Stein neben einen echten legen durfte.
»Was Lord Fintan betrifft, müssen wir klug vorgehen«, sagte sie ruhig. »Mit Ada sind wir nun einmal geschlagen, aber nicht unbedingt mit ihrer Zofe. Stella, da fällt Ihnen doch bestimmt etwas ein?«
Mit langsamen Strichen bürstete Stella ihrer Lady die Haare. Sie lächelte. »Aber sicher, Mylady.«
Zweiter Teil
London
20
In Londons Straßen wimmelte es von Menschen, die ganze Stadt schien zu brummen, die ratternden Kutschen und Automobile sich von Tag zu Tag zu vermehren. Die Auslagen von Selfridges und Fortnum & Mason prunkten mit dem neuesten Pariser Chic. Modebewusste Ladys und Gentlemen trieben und trudelten durchs Gedränge, bunte Farbtupfen im Grau der Normalsterblichen; sie rauschten von Club zu Grandhotel und Schneider und abends weiter ins Theater, in die Oper und in die Casinos.
Einige wenige Auserlesene aus diesem eleganten Treibgut landeten an den Türen Paul Poirets. Die in den neuesten Farben schimmernden Kleider des berühmten Couturiers umhüllten mit ihren fließenden, fernöstlich inspirierten Schnitten in dieser Saison viele schmale, blasse Schultern. Aus ebendiesen Türen traten Fiona, Charlotte und Ada heraus. Ein Lakai folgte ihnen, beladen mit Paketen und Hutschachteln.
»Außerhalb der Saison ist wirklich kein Mensch in London«, seufzte Charlotte, als sie in der Droschke Platz nahm.
»Kein Mensch?« Ada sah aus dem Fenster auf die Menge hinaus. Jedes Mal, wenn sie wieder einen Blick auf die Straße warf, schienen noch mehr Automobile unterwegs zu sein. Der Lärm war geradezu ohrenbetäubend, und ihr Herz schien im hektischen Rhythmus der Stadt mitzuklopfen.
Seit ihrer Ankunft in London war das Leben ein einziger Wirbel von Besuchen, Bällen, Theatervorstellungen und Kleiderkäufen. Ada hatte kaum Zeit, Atem zu schöpfen, und kaum war sie abends aufs Kissen gesunken, war es auch schon wieder Morgen und sie wurde von Rose mit Tee und Plänen für den Tag geweckt. Dass ihr dieses Leben missfiel, konnte sie nicht behaupten, auch wenn sie es gern getan hätte. Das Kleid, mit dem sie heute das Geschäft verlassen hatte, hieß La Vague , die Welle. Es war duftig und von der Brust bis zum Boden gerade geschnitten, eine zarte und gleichzeitig klar geformte Hülle, die ihre Schönheit zur Geltung brachte; sogar sie selbst fand sich in dem Kleid schön. Und so wie das Kleid hieß, so fühlte sie sich in London auch: wie von einer schwindelerregenden Flut erfasst und weit ins Meer hinausgetragen. Um ihr Glück vollkommen zu machen, fehlten nur ein paar Minuten mit Ravi. Sie wünschte sich, dass er sie in diesem Kleid sähe. Aber sie hatte auf ihren letzten Brief keine Antwort bekommen.
»Absolut kein Mensch! Ich habe nicht einmal die Sassoons gesehen und keinen einzigen vom Set. Es ist wirklich wie in der Wüste.« Charlotte gähnte.
»Zufrieden mit deinem neuen Kleid, Ada?«, fragte Fiona.
»O ja. Es ist wunderschön«, antwortete Ada.
»Ich hoffe nur, dieses Dienstmädchen ruiniert es nicht gleich beim ersten Ankleiden«, fuhr Fiona fort.
Ada verging das Lächeln. »Ich finde, Rose macht das ganz hervorragend.«
»Das sagst du nur, weil du noch nie die Unterstützung einer französisch geschulten Zofe genossen hast«, sagte Charlotte.
»Meine Schwester und ich haben Rose sehr gern«, sagte Ada in entschiedenem Ton. Sie hatte das ständige Bohren satt und begriff nicht, warum ihre Stiefmutter und Stiefschwester Rose gegenüber so voreingenommen waren. Irgendwie hatte sie den Verdacht, dass Stella dahinterstecken könnte.
Sie drehte sich zum Fenster und hoffte, damit ein klares Signal zu geben, dass das Gespräch für sie beendet war. Große, prächtige Häuser mit weißen Fassaden glitten auf der einen Seite vorbei, der Park auf der anderen.
»Endlich!«, rief Charlotte. Die Droschke hielt, ein Lakai eilte herbei und öffnete den Wagenschlag. Ada stieg nach Charlotte und Fiona aus und sah beklommen an Seton House hoch. Diesem Moment hatte sie schon den ganzen Tag mit Anspannung entgegengeblickt. Mrs Verulam war die bekannteste
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