Rasheed, Leila
mitteilen, dass wir Sie erst entlassen, wenn wir nach Somerton zurückkehren«, fuhr er fort. »Ich würde nie ein junges, wehrloses Mädchen, das hier keine Freunde hat, ohne Geld und Empfehlungsschreiben auf die Straße setzen. Sie können nicht weiter als Adas Zofe arbeiten, aber ich will nicht die Ursache für Ihren Ruin sein, ganz sicher nicht.«
Rose sah ihn an, fassungslos vor Dankbarkeit. »Sir, ich verdiene Ihre Freundlichkeit nicht …«
»Und ich die Ihre nicht … Wenn Sie nur wüssten …«, entgegnete er rasch.
Das war eine so merkwürdige Antwort, dass sie nichts darauf zu erwidern wusste. Also neigte sie nur den Kopf und machte einen kleinen Knicks. Ihr blieb ein Schicksal erspart, das schlimmer war als der Tod – aber ihre Zukunft war weiter ungewiss. Was würde aus ihr werden, wenn sie wieder nach Somerton Court zurückgekehrt wären?
Stella lungerte vor Roses Tür herum, konnte aber nichts hören als das tiefe, undeutliche Gemurmel von Lord Westlakes Stimme. Zornig und frustriert wandte sie sich ab. Das kleine Luder schaffte es, auch dann noch überlegen zu tun, wenn es so eindeutig in Ungnade gefallen war.
Sie lief den Gang hinunter, ihre Gedanken rasten. Stella war mit den Jahren hart geworden, doch an einigen empfindlich gebliebenen Stellen zwickte es nun, was sie nur noch wütender machte. Und eine wütende Stella war eine gefährliche Stella.
Sie blieb vor Lady Adas Zimmer stehen. Es war riskant, aber so hatte sie ihre Karriere begonnen, hatte in Zimmern herumgeschnüffelt, in denen sie nichts zu suchen hatte, hatte Papierkörbe nach Notizen und Briefen durchwühlt, die ihre Verfasser lieber keinen fremden Blicken preisgegeben hätten. Stella war nicht stolz darauf. Aber mit einer Schwester, die auf die schiefe Bahn geraten war, und einem Alkoholiker als Vater, den sie auch noch unterstützen musste, konnte sie nicht wählerisch sein. Das würde auch Rose lernen müssen, früher oder später.
Sie stieß die Tür zu Lady Adas Zimmer auf und huschte hinein. Niemand hatte sie gesehen. Niemand sah, wie sie in den Papierkorb griff und alle weggeworfenen Blätter herausnahm. Niemand sah, wie sie die Papiere überflog, immer wieder mit einem hastigen Blick zur Tür. Und niemand sah, wie sie bei ein paar lavendelfarbenen Papierfetzen stutzte, offensichtlich ein zerrissenes Blatt, das in einer klaren, damenhaften Handschrift beschrieben war.
Sie legte die Fetzen auf den Frisiertisch und setzte das Puzzle zusammen. Ein Lächeln breitete sich über ihr Gesicht aus, als sie die vollständige Nachricht las.
»Doch kein so verschwendeter Tag«, murmelte sie. Sie warf die Fetzen in den Papierkorb zurück und machte sich auf zu Charlotte.
30
Es war der erste richtige Frühlingstag, und die Oxforder Studenten fuhren mit Stechkähnen den Fluss hinunter, schick in ihren gestreiften Jacketts und den Strohhüten auf dem Kopf. Ihr Rufen und Lachen hallte von den baumbestandenen Ufern wider, und von den Brücken, unter denen sie hindurchglitten, antwortete das Geratter der Kutschen und Automobile. Die vielen Turmspitzen, Wahrzeichen der Stadt, verschwammen im Dunst der Nachmittagssonne.
Als Ada am Ufer des Flusses entlanglief, den zusammengeklappten Sonnenschirm in der Hand, drehten sich viele Studenten nach ihr um. Eine Frau auf dem Universitätsgelände war für sie ein ungewohnter Anblick; nur gelegentlich kamen ihre Schwestern und Mütter zu Besuch, und die wenigen Studentinnen, die die Mauern der akademischen Festung bezwungen hatten, fielen kaum ins Gewicht. Der Anblick war umso ungewöhnlicher, als es sich bei dieser Frau um eine sehr elegant gekleidete, hübsche und anscheinend kultivierte junge Dame handelte, die allein im Schatten der Weiden herumspazierte.
Ada bemerkte die neugierigen und bewundernden Blicke nicht, die ihr folgten. Sie war zu nervös, in Gedanken zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Die Unterredung, die sie gerade mit Miss Gorman, der Rektorin von Somerville, gehabt hatte, war besser gelaufen, als sie sich hätte erhoffen können. Aber sobald sie sich darüber zu freuen erlaubte, holte der Gedanke an die Hindernisse, die ihr im Weg standen, sie unsanft wieder ein. Jetzt, wo sie bei ihrem Vater in Ungnade gefallen war, weil sie Rose um ihre Stellung gebracht hatte, rückte jede Aussicht, dass sie ihn überreden könnte, sie nach Oxford ziehen zu lassen, in noch weitere Ferne. Der ermutigende Zuspruch der Rektorin spielte kaum eine Rolle, wenn sie im Grunde keine Chance
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