Rasheed, Leila
Hand auf den Arm.
Sie blieb stehen und sah ihn flehend an. »Bitte, Ravi. Sind Sie sicher, dass es richtig ist, sich mit dieser indischen Unabhängigkeitsbewegung einzulassen? Können Sie nicht auch einfach so zufrieden sein?«
»Können Sie es denn?«, konterte er.
Sie senkte den Blick. Sie wusste, dass er ihre eigene Sehnsucht nach Unabhängigkeit mit der seinen verglich – und er hatte recht, musste sie zugeben. Sie griff in ihre Handtasche und zog eine zusammengefaltete Zeitschrift heraus. »Mein Artikel ist tatsächlich erschienen«, sagte sie und hielt ihm den Spectator hin. »Mein erster veröffentlichter Artikel, und die erste Arbeit, für die ich bezahlt worden bin.«
»Ada! Ich gratuliere!« Mit einem stolzen Lächeln überflog er die Spalten. Ada hatte tatsächlich einige seiner kritischen Anmerkungen aufgegriffen.
»Was ich damit sagen will …« Sie zögerte. »Ich habe meine Fahrkarte hierher von meinem Honorar bezahlt. Und deshalb habe ich auch das Gefühl, ich habe mir das Recht verdient, hier zu sein – jetzt, mit Ihnen –, anders, als wenn ich den Betrag von meinem Kleidergeld abgezweigt hätte. Ich verstehe Sie wirklich. Ja. Ich verstehe, wie sehr Sie sich Unabhängigkeit wünschen.«
Er sah sie zärtlich an. »Ich möchte Sie so gern küssen«, sagte er sanft.
Sie errötete. Sie waren in der Öffentlichkeit. Studenten im Talar schlenderten über die Brücken, Pferdebahnwagen und Automobile rollten vorbei.
»Lieber nicht«, erwiderte sie leise.
Zusammen gingen sie weiter den Weg am Fluss entlang, und beide spürten dieses neue Gefühl der Nähe zwischen ihnen.
Er räusperte sich. »Vielleicht ist das ein guter Moment, um Ihnen von meinen Recherchen zu erzählen. Ich wollte mir in diesem Punkt unbedingt Klarheit verschaffen und weiß, dass auch Ihnen daran liegt.«
»Worum geht es denn?«
»Um Ihren Vater. Ich weiß – und bitte verzeihen Sie, aber das weiß jeder –, dass sein Ruf durch sein Vorgehen in Indien schwer beschädigt wurde. Ich habe mich umgehört, weil ich die ganze Wahrheit erfahren wollte.«
Ada umklammerte den Griff ihres Sonnenschirms. »Reden Sie weiter.«
»Es ist nicht so, wie Sie denken. Er hat sich geweigert, die Zahl der Inder geheim zu halten, die in britischen Gefängnissen zu Tode gekommen sind, Männer, die gegen die Teilung Bengalens protestiert haben. Das hat gewissen Leuten nicht gefallen, und die haben ihn zum Rücktritt gezwungen. Haben seinen guten Namen beschmutzt, um ihren schmutzigen Namen zu schützen. Er ist ein aufrechter Mensch, Ada; Sie sollten stolz auf ihn sein.«
Ada lächelte. »Das bin ich auch«, sagte sie. Ihr ging das Herz auf. Endlich konnte sie wieder erhobenen Hauptes durchs Leben gehen. Ihr Vater war kein Feigling, kein Verräter, nichts von alledem, was ihm vorgeworfen wurde – im Gegenteil!
»Beim Dinner bin ich zu schroff gewesen. Ihr Vater glaubt an etwas, was größer ist als er selbst. Er glaubt an das British Empire, an alles, was gut daran ist. Und ich – ich glaube an Indien.« Er stockte, dann fuhr er fort: »Wir müssen alle an etwas glauben, was größer ist, als wir es selbst sind. Was so fern und wunderbar ist wie die Sterne.«
Sie waren bei der Straße angelangt, in der Emily wohnte. Ada blieb stehen, ihr wurde schwer ums Herz. Der Moment des Abschieds war da. Viel zu früh – sie hatten sich noch so unendlich viel zu sagen.
Sie wollte ihn gerade fragen, wann sie sich denn wiedersehen könnten, als sich in der Luft ein Brummen näherte, das zu einem lauten Getöse anschwoll. Es schien von überall zu kommen, schien sie fortreißen zu wollen wie eine riesige Welle oder Hand. Es brachte die alten Gemäuer von Oxford zum Beben, die Frühlingsblätter an den Bäumen zum Zittern. Verwirrt machte Ada einen Schritt zurück und sah sich um. Andere auf der Straße taten dasselbe, manche aufgeregt, andere erschrocken. Der Lärm war so laut geworden, dass sie kaum noch einen Gedanken fassen konnte. Sie blickte nach oben – und über ihr, in dem blauen Stück Himmel zwischen den Häusern, kam ein riesiges, glänzendes Ungetüm angeflogen, das so schrecklich war wie ein Drachen und auch so viel Rauch ausstieß. Ada hielt erschrocken den Atem an.
»Ein Flugzeug!«, hörte sie Ravi über das Dröhnen der Motoren hinwegschreien.
Gemeinsam sahen sie zu dem Ungetüm hinauf. Ada hatte von solchen Maschinen bisher nur gehört, gesehen hatte sie noch keine. Ihr stand der Mund offen vor ehrfürchtigem Staunen. Der Rumpf des
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