Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Wachen
und Schlaf flehten diese Augen Martin an, ihn zu retten. Ihn nicht gehen zu lassen,
das Geschehene ungeschehen zu machen.
Wie viele
Tote konnte ein Mensch ertragen, noch dazu, wenn sie in seinen Armen oder in seiner
Gegenwart starben?
Gegen vier
Uhr schlief Martin ein, und trotz allem nahm er sich vor, Punkt acht vor den Mauern
der Psychiatrie zu stehen. Zeit zum Schlafen würde er sich später nehmen können.
Jede verstrichene Minute könnte zwei weiteren Menschen das Leben kosten.
Der Wecker klingelte pünktlich,
und nach drei Stunden Nachtruhe war kaum von Erholung zu sprechen. Martin wusste,
dass er keine Wahl hatte. Es musste gehandelt werden – und das tat er jetzt. Es
kostete ihn erstaunlicherweise wenig Mühe, sich aus den Federn zu schälen, denn
das, was er an diesem Tag geplant hatte, lief weder durch offizielle polizeiliche
Instanzen noch hatte er Werner davon erzählt. Er hasste es, wenn einmal eine Entscheidung
getroffen war, sich mit Bedenkenträgern zu umgeben. Leuten, die mit ihrem Wenn und
Aber alles zunichte machten. Martin hatte in all den Jahren, bevor er nach Ecuador
aufbrach, viel aus dem Bauch heraus entschieden, und genau das wollte er, zumal
dieser nun um einiges dicker geworden war, garantiert nicht aufgeben. Duschen, anziehen,
Kaffee trinken und ein in den Kaffee getauchtes Croissant vom Vortag hinunterschlingen
– all das brauchte knappe 15 Minuten. Ein Blick auf die Uhr stellte ihn zufrieden.
Just in time. Den Weg in die Klinik kannte er ohne Navi. Nur der Berufsverkehr nervte
wie immer.
Warum machen
das Männer bloß?, fragte er sich. Keine Fahrt vergeht, ohne dass man sich über seinen
Vordermann oder Hintermann oder sonst wen aufregt. Sie beschimpfen einen, obwohl
man sie nicht hören kann, sie maßregeln einen aggressiv wie ein cholerischer Fahrlehrer,
obwohl es den Betreffenden nie erreicht. Obwohl jedem Mann wie auch Martin die
Idiotie dieses Verhaltens mehr oder weniger bewusst war, sah man keinerlei Möglichkeit,
dieses Verhalten zu ändern.
Etwa zehn
Minuten nach acht Uhr erreichte er die geschlossene Anstalt in Hamburg-Norderstedt.
Der Pförtner sah ihm mit dem schläfrigen Ausdruck eines Bernhardiners hinterher
und öffnete das Tor. Entschlossen schritt Martin diverse Flure entlang, bis er zu
jener Abteilung kam, in der Emilie Braun ihr Dasein fristete. Ohne Zeit zu verlieren,
suchte er das Arztzimmer von Dr. Schillig auf. Er klopfte und ging, ohne zu warten,
hinein. Schillig hatte zehn Minuten zuvor seinen Dienst begonnen und gönnte sich
eine belebende Tasse schwarzen Gebräus aus dem Automaten.
»Oh, hallo,
Herr Kommissar. So früh auf den Beinen.«
»Lässt sich
nicht ändern. Ich muss Sie mal was fragen, Doktor.«
»Klar. Fragen
Sie.« Schillig schlürfte den heißen Kaffee.
»Frau Braun
lebt doch freiwillig hier, oder?«
Schillig
nippte wieder an seiner Tasse. »Ja, stimmt. Mehr oder weniger. Suizidgefährdete
werden zum Schutz vor sich selbst eingeliefert und hierbehalten, so lange, bis sie
wieder stabil sind. Bei Frau Braun liegt der Fall ja etwas anders.« Schillig warf
einen Blick aus dem Fenster. Obwohl es bereits fast halb neun war, wurde es außerhalb
der Mauern nicht richtig hell. Dann fuhr er fort: »Juristisch ein heikles Thema.
Wenn einer gehen will und nicht von Angehörigen entmündigt wurde, dann müssen wir
ihn gehen lassen. Warum fragen Sie?«
»Weil ich
Frau Braun jetzt mitnehmen werde.«
Schillig
schien nicht zu begreifen, denn seine Reaktion kam sehr spät. »Wieso? Hat sie etwas
angestellt?«
»Nein, das
nicht, aber ich nehme sie trotzdem mit.«
»Das geht
nicht«, protestierte er, doch in seiner Stimme lag keine Autorität. »Wohin mitnehmen?«
Er schien nervös. Etwas an diesem Anliegen stimmte nicht mit seinem Betreuungskonzept
überein.
»Na, mit
mir«, gab Martin dem Arzt zu verstehen, als sei es das Normalste von der Welt, sich
bei einer in einer Anstalt lebenden Person unter dem Arm einzuhaken und sie ins
Freie zu geleiten.
»Was heißt
das, mit mir? Ich verstehe immer noch nicht. Sie meinen, sie ist festgenommen?«
Martin konnte kaum glauben, wie begriffsstutzig ein Akademiker sein konnte.
»Nicht direkt.
Sie kommt einfach mit mir mit, das ist alles. Es ist zu ihrem Schutz. Was ist daran
so schwer zu verstehen? Sie sagen mir, welche Medikamente sie braucht und geben
mir diese Schächtelchen für eine ganze Woche mit, und sobald wir den Mörder gefasst
haben, bringe ich Frau Braun wieder
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