Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
überlegte, ob er das Richtige tat. Sie im Wagen sitzen zu
lassen, war möglicherweise keine gute Idee. Sie in die Psychiatrie mitzunehmen,
an den Ort, wo sie, obgleich noch als Kind, über ein Jahr gelebt hatte, könnte jedoch
unvorhersehbare Konsequenzen auslösen. Anfälle, denen er nicht gewachsen war, und
garantiert eine Meldung in Norderstedt. Wie viel und wie konkret sich Emilie noch
an ihre Kindheit erinnern konnte, wusste er nicht und er wollte es auch nicht ausprobieren,
ob die Konfrontation mit ihrer Kindheit einen Schock auslöste.
Mit unsicheren
Schritten eilte Martin zur Hauptpforte des Landeskrankenhauses Lüneburg. Sein Ziel
war die Bildungs- und Gedenkstätte ›Opfer der NS-Psychiatrie‹, die sich inmitten
des Geländes der psychiatrischen Klinik im Wasserturmgebäude befand. Wenn es einen
Ort gab, an dem man etwas über die Verbrechen an Kindern zwischen 1941 bis Kriegsende
in Erfahrung bringen konnte, dann war es hier.
Kaum hatte
Martin den Torbogen durchschritten, spürte er ein leichtes Zittern in den Knien.
Wieder die Begegnung mit dem Unnormalen, dem anderen, dem Fremden. Bulle hin oder
her. Er war sich sicher, dass es kein Medikament und keine Therapie der Welt gab,
die ihm die Abscheu vor all dem nehmen konnte. Er versuchte, seine Gedanken zu ignorieren,
denn es ging nicht um ihn, sondern um die Aufklärung einiger Morde und das Verhüten
zweier weiterer. Es ging um viel höhere Dinge als seine eigene Schwäche, und so
suchte Martin fieberhaft auf den Hinweisschildern nach dem Ort der ehemaligen Kinderfachabteilung.
Das Gelände war weitläufig. Nach einer Weile fand er einen hübschen roten Backsteinbau
mit der Nummer 34 rechts neben der Tür. Er drückte die Klinke herunter, und die
Tür gab nach. Er wusste, dass nicht zu allen Tages- und Nachtzeiten für jedermann
die Räume zugänglich waren. Heute sollte er Glück haben und, ohne viel Zeit zu verlieren,
seine Ermittlungen vorantreiben können.
Als er die
Eingangstür hinter sich ließ, wuchs das Gefühl der Enge. Sein T-Shirt saugte den
Schweiß unter den Achseln auf, kalt wie die Tropfen, die auf das Dach prasselten.
An der Decke
hingen Lichtstrahler, die ihren Schein auf schwarz-weiße Bilder richteten und den
Zuschauer schonungslos über die damalige Einrichtung und deren Betreiber aufklärten.
Martin war nicht interessiert an dem, was eh alle wussten und was der Öffentlichkeit
zugänglich war, sondern an dem, was noch im Verborgenen schlummerte, an dem, was
ihn in seinen Ermittlungen weiterbringen würde, um die panzerharte Schale der wahren
Identität von Dr. Richard Fürst zu knacken. Fürst war mehrmals zu den Vorwürfen
in dieser Fachabteilung befragt worden, und ja, er sei Mitglied der NSDAP und der
Waffen-SS gewesen, aber von Eingriffen an Kindern, von Experimenten und Tötungen
wusste er nichts. In seiner Gegenwart seien sie nie vorgenommen worden. Martin war
es leid, von Indizien und Lügen zu hören, nie von Beweisen. In den sechziger Jahren
hatte es unzählige Untersuchungen seitens der Staatsanwaltschaft gegeben. Für lediglich
drei Angeklagte wurde die Täterschaft im Zusammenhang mit Kindstötungen aktenkundig,
doch Verurteilungen gab es nie.
Martin stolperte
durch die Gänge und heftete seinen Blick auf all die Bilder und die hinter Glas
archivierten Dokumente, die eindeutig belegten, was an diesem Ort des Grauens geschehen
war. Vorbei an Vitrinen, in denen die Schlüssel zu den Tötungsräumen lagen, gleich
daneben Fotos von Jungen und Mädchen, die durch mannigfaltigen Wahnsinn ihr Leben
lassen mussten. In Martin kochte es. Sein Gerechtigkeitsempfinden war zu ausgeprägt,
als dass er diese Bilder gleichgültig und emotionslos ansehen konnte. Sein Blick
fiel auf die Fotografie eines vielleicht fünfjährigen Jungen, in dessen Pupillen
sich die Gestalt seines Peinigers spiegelte. Eine hoffnungslose Ohnmacht las er
darin und er spürte, dass seine Augen feucht wurden.
»Kann ich
Ihnen helfen?«
Martin drehte
sich zu der warmen Stimme um, die einer Frau gehörte, die wie er die 40 knapp überschritten
haben mochte. Hastig rieb sich Martin mit einer Hand das Auge trocken, während er
mit der anderen nach seinem Ausweis fingerte.
»Kripo Hamburg.
Pohlmann mein Name. Ich bin auf der Suche nach Hinweisen.« Ungelenk ließ der Kommissar
seinen Ausweis verschwinden.
»Ich ermittle
in einer Mordserie in Hamburg. Sie werden davon gehört haben.« Martin schmunzelte
und merkte, wie unpassend dies war. »Jeder hat davon
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