Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
2010
Martin startete am frühen Nachmittag
den Wagen und fuhr los. Nach einigen Kilometern Richtung Lüneburg merkte er, wie
sehr ihn der Zwischenfall im Restaurant mitgenommen hatte. Obwohl der Alkohol ihn
beruhigt hatte, spürte er eine dumpfe Leere in seinem Kopf. Emilie benahm sich,
als wäre nichts gewesen. Es schien, als wäre die Aufregung der anderen an ihr wie
dunkle Gewitterwolken vorbeigezogen. Sie saß stumm da und schaute aus dem Fenster.
Wenn sie etwas entdeckte, was ihre Aufmerksamkeit für mehr als ein paar Sekunden
fesseln konnte, drehte sie sich auf ihrem Sitz um und verfolgte das Objekt mit den
Augen, bis es in der Unkenntlichkeit verschwunden war oder sich Neues gefunden hatte,
woran sich ihre Neugier klammerte. Nach einer Weile ging sie in sich und ließ die
Dinge an sich vorbeigleiten, ohne sie groß zu beachten. Sie knetete und drückte
ihre Finger und schaute sich im Wagen um. Sie beobachtete Martin, wie er in fließenden
Bewegungen kuppelte und schaltete, bremste und blinkte und den Wagen souverän in
der Mitte der Straße hielt. Sie schien diese Leichtigkeit zu bewundern, mit der
man ein solches Auto bewegen konnte. Kurz vor der Autobahnausfahrt nach Lüneburg
brach sie von sich aus das Schweigen. Mit der Bemerkung, die sie ohne jegliche Aufforderung
oder Vorbereitung von sich gab, hätte sie jeden Mediziner verblüfft. Niemand wusste
ja, ob, und wenn, wie viel sie während dieser Anfälle von ihrer Außenwelt in sich
hereinließ. Offenbar mehr, als jeder vermutet hatte.
»Tut mir
leid, das mit Ihrer Verlobten.«
Martin war
während der Fahrt in eigene Gedanken versunken gewesen. Er überlegte, wie er die
nächsten Tage überstehen sollte, und war über die Stimme, die an sein rechtes Ohr
drang, und über das, was sie sagte, mehr als verwundert. Der Mund stand ihm offen
und er schaute Emilie an.
»Sie haben
das alles mitbekommen, was ich Ihnen erzählt hab?«
»Klar. Wieso
nicht?«
»Wieso nicht?«
Seine Stimme überschlug sich. »Weil Sie absolut nicht ansprechbar waren. Sie haben
auf nichts reagiert und mir einen Scheißschrecken eingejagt.«
»Ich weiß.
Ich kann nicht anders. Ich höre alles, was man sagt, kann mich aber nicht rühren
und nichts sagen. Das war schon immer so. Auch ein Grund, warum man mich eingesperrt
hatte, damals.«
Martin schüttelte
den Kopf. Einerseits war er froh, dass sie mit diesen Zuständen umzugehen wusste,
doch er machte sich darüber Sorgen, wie die Öffentlichkeit auf seine schräge Begleitung
reagierte. Kaum war jemand ein bisschen anders als der sogenannte normale Durchschnitt,
begannen die Leute wegzusehen oder erst recht hinzusehen, die Lippen zusammenzupressen
und sich zu empören. Die meisten Menschen konnten mit Behinderungen, seien es geistiger
oder körperlicher Art, nicht umgehen. Sie hatten Angst, sie könnten im Falle eines
Kontaktes mit dem Andersartigen etwas falsch machen, oder sie waren froh, dass sie
selbst nicht so waren, und wollten es auch um Gottes willen nie werden. Behinderungen
und Krankheiten verunsicherten die Menschen.
»Hören Sie,
Emilie. Ich darf Sie doch Emilie nennen?«
Sie nickte.
»Wir kommen
gleich zu einem Haus, in das ich allein gehen muss. Ich möchte, dass Sie im Auto
sitzen bleiben und sich nicht vom Fleck rühren. Geht das in Ordnung?«
»Warum?«
»Warum was?«
»Warum müssen
Sie dort hinein – und warum darf ich nicht mit?«
Martin parkte
den Wagen vor der alten Psychiatrie in Lüneburg-Mitte. Er hatte ein paar Tage zuvor
recherchiert, in welcher Zeit sich Dr. Fürst hier aufgehalten und sich an den unrühmlichen
Euthanasie-Morden beteiligt hatte – dem Ausmerzen unwerten kindlichen Lebens. Alles
natürlich unter dem Deckmantel der Wissenschaft. Alle Kinder starben offiziell an
Krankheiten wie Lungenentzündung oder Keuchhusten. In Wirklichkeit hatte man ihnen
ein Medikament mit dem Namen Luminal verabreicht.
»Ich habe
etwas da drin zu erledigen. Es dauert nicht lange. Ich bin gleich wieder zurück.«
»Was haben
Sie denn zu erledigen? Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen.«
Martin sah
sie belustigt an.
»Nein, danke.
Ich muss arbeiten. Sie wissen doch, ich bin Polizist und muss was rausfinden. Tun
Sie mir einen Gefallen und bleiben Sie einfach ein paar Minuten im Wagen sitzen.«
Emilie Braun
gab sich geschlagen und schmollte auf ihrem Sitz wie ein pubertierender Teenie.
Sie stülpte ihre faltigen Lippen und verschränkte die Arme. Martin stieg mit einem
unguten Gefühl aus. Er
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