Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Anbetracht der Menge Blutes, die er verloren hatte, nicht verwunderlich.
Er war das
eine oder andere Mal bei einem Einsatz verletzt worden und kannte den Schmerz eines
glatten Durchschusses am Rand des Oberschenkels. Eine Kugel hatte während einer
Verfolgungsjagd quer durch Hamburg den Muskel durchschlagen, ohne Knochen und Gefäße
zu verletzen und sie schien mit ungebremster Geschwindigkeit weiterzufliegen, als
sei menschliches Fleisch zart wie ein süßer Marshmallow, der auf der Zunge zergeht.
Was der Begriff Schmerz wirklich bedeutete, wusste er erst seit der letzten Nacht.
Nachdem sich die Wirkung der Schmerztablette verabschiedet hatte, begann Martin,
trotz der Kälte zu schwitzen. Er konnte nicht sagen, welches Pochen in seinem Körper
dominierte, als gälte es einen Wettstreit in dieser Disziplin auszutragen. Das linke
Auge war nach wie vor zugeschwollen und blau unterlaufen. Er hatte den Begriff,
der auf sein Auge zutraf, in einer medizinischen Zeitschrift gelesen und darüber
geschmunzelt. Er hatte ein sogenanntes Monokelhämatom: kreisrund
um das Auge herum und durch eine Fraktur des Jochbeins hervorgerufen.
Die drei
zertrümmerten Finger hielt er ruhig, denn ein leichtes Anstoßen, wie in der Nacht
mehrfach vorgekommen, trieb ihm jedes Mal die Tränen in die Augen. Dass diese Blessuren nur ein Vorgeschmack
von dem sein sollten, was noch kommen sollte, ahnte er, ohne es in die Tiefen seines
Gehirns, wie von einem bulligen Türsteher blockiert, eindringen zu lassen. Er würde
alles daran setzen, um nicht noch einmal diesen Höllenqualen ausgesetzt zu werden.
Wie beschränkt seine Möglichkeiten diesbezüglich waren, wusste er nur zu genau. Er hatte
keine Waffe, und der Kräftigste und Schnellste war er in seinem Alter und bei seiner
mangelnden Fitness auch nicht mehr. Doch was er hatte, war das: Er hatte eine ungeheure
Wut auf diesen Kerl und war entschlossen, diese Wut in Kraft und Überlegenheit zu
bündeln. Dräger war nicht der Allerschlaueste, sonst wäre er nicht ein einfacher
Pfleger geworden. Es müsste möglich sein, ihn mit List und Tücke zu überwältigen.
Pohlmann
richtete seinen zerschundenen Körper auf und streckte sich. Er überlegte, ob er
die zweite Pille zerkauen und schlucken sollte, obgleich kein Wasser zum Hinunterspülen
mehr da war. Der verrostete Hahn über dem Waschbecken hatte nur Tropfen brauner
Brühe ausgespuckt und war dann verstummt. Er entschied, die Tablette für später
aufzuheben.
Er stand
auf und versuchte, ein paar Kniebeugen zu machen. Er wollte um alles in der Welt
den Rest der körperlichen Kraft bewahren und pumpte Blut in seine Muskeln.
Feldmann
hatte sich wortlos aufgerichtet und, mit der Decke um seinen Körper, an die Wand
gelehnt. Er sah dem Treiben von Martin zu und empfand dessen Bemühungen als Zeitverschwendung
und nutzlos. Eine schwere Depression hatte von ihm Besitz ergriffen, da er glaubte,
bald sterben zu müssen. Und doch hatte er den festen Vorsatz, seine Mitgefangenen
durch seinen Tod zu retten. Die Plausibilität seiner Argumentation würde Dräger
einleuchten, so hoffte er. Nun, am Tag seines möglichen Ablebens, war seine Stimmung
verständlicherweise nicht auf einem Höhepunkt und er zog die Beine noch dichter
an seinen Körper heran, als würde der Schutz der körpereigenen Geborgenheit das
Unvermeidliche verhindern können.
Gegen acht
Uhr hörten sie Dräger die Treppe hinunterkommen. Seine Tritte klangen schwer, als
trüge er Schuhe mit eiserner Sohle. Er klimperte von Weitem mit einem Schlüsselbund,
was die Wirkung auf die drei Inhaftierten nicht verfehlte. Er entfernte das Vorhängeschloss
und zog die Tür zu seinem eigens für diesen Zweck eingerichteten Verlies auf. An
diesem Tag trug er eine Armeehose mit tarnfarbenen Flicken und ein schwarzes Hemd.
Darüber hatte er sich eine weiße Gummischürze gebunden, ähnlich wie sie ein Metzger
während seiner blutigen Arbeit trägt. Glasig blickte er in die Runde der verstörten
Gesichter und legte dasselbe sardonische Grinsen wie am Vorabend auf. Er war unrasiert
und die schmierigen blonden Haare lagen ihm ungekämmt auf dem bleichen Schädel.
»Na, meine
Täubchen, wie haben wir geschlafen?«, eröffnete er das Gespräch. »Seid ihr bereit,
ein paar Federn zu lassen?« Er lachte kehlig über seinen unpassenden Vergleich.
»Ich hab
mir gedacht, wir machen da weiter, wo wir gestern Abend stehen geblieben waren.
Das bedeutet, dass Sie, mein lieber, Kommissar, einen weiteren Beweis
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