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Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)

Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Gustmann
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dieser Mauern, reden die Leute, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist.
Hier gibt es, ich will nicht sagen, keine Etikette, jedoch ziemlich wenig. Es wird
geschimpft, geflucht, gespuckt, geschlagen. Auch Emmi ist in ihrer Wortwahl keine
First Lady. Wenn sie spricht, und das tut sie ziemlich selten, dann wundert man
sich, woher sie all die Worte kennt. Klar, sie hört sie von anderen und liest das
eine oder andere in ihren Büchern, doch wenn sie schreibt oder liest, ist sie wie
ausgewechselt.«
    »Liest sie
viel?«
    Annegret
lachte. »Viel ist gestrunzt. Sie liest wöchentlich zwei bis drei Bücher. Wenn sie
nicht auf ihrem Zimmer liegt, sitzt sie in der Klinikbibliothek auf dem Boden und
liest Thomas Mann, Charles Dickens oder Hemingway. Dann ist sie total verklärt,
murmelt irgendwas Unverständliches, kichert zwischendurch, und es scheint, als rede
sie mit einem Geist.« Eine kurze Pause entstand. »Und natürlich hat sie mit Professor
Keller gesprochen, ab und zu, wenn sie Lust hatte. Manchmal haben die beiden auch
nur ›stumme Sitzungen‹ abgehalten. Wir haben nie kapiert, was sie da in seinem Sprechzimmer
trieben, doch sie saßen nebeneinander und taten – nichts. Er stellte ihr Fragen,
sie blieb stumm. Sie brachte ein Buch mit in die Therapie und las. Ziemlich unhöflich,
würde man denken, doch Keller hat sich nie daran gestört. Im Gegenteil. Er hatte
sowieso eine Engelsgeduld mit ihr, viel mehr als mit anderen Patienten. Da war er
ungeduldig, manchmal zornig und brach die Sitzungen ab, aber niemals bei ihr. Die
Emmi und der Professor – das war schon was Besonderes.«
     
    Martin und die Schwester hatten
nun das Zimmer der Patientin Emilie Braun erreicht. In dem Moment, als Annegret
die Klinke herunterdrückte und Martin die alte Frau entdeckte, geriet seine Welt
erneut aus den Fugen. Ein Häufchen Elend kauerte in dem viel zu großen Bett. Bandagierte
Handgelenke wie am Vortag, doch nun ließen die Fixierungen keinen Spielraum für
sie zu. Der diensthabende Psychiater hatte die Dosis der Sedierung so gewählt, dass
Pohlmann mit ihr sprechen könne.
    Er stand
vor ihrem Bett und sah sie an. Es roch süßlich nach getrocknetem Blut, nach Urin
und nach Ausdünstungen, die von bitteren Pillen stammten. Eine schier unerträgliche
Mischung für seine Nase.
    Ihre Wahrnehmung
seiner Person verlief ruhiger als beim letzten Mal, friedlicher und kraftloser.
Immerhin hatte sie einen Liter ihres Lebenssaftes vergossen und sich beinahe ins
Jenseits befördert, den Ort, an den sie offensichtlich nicht schnell genug hingelangen
konnte. Warum in aller Welt sie dies tat, erzählte sie ja keinem. Und so wartete
er gespannt darauf, dass sie zu einer Plaudertasche mutieren würde und ihm schnell
alles erzählte, was seine Ermittlungen beenden würde. Sie drehte den Kopf zu ihm
herum und sah ihn eine geraume Zeit lang an – ohne ein Wort zu sagen.
    »Hallo,
Frau Braun.« Pohlmann hob die Hand wie zum Gruß, während er die andere in der Hosentasche
versteckt hielt. »Sie wollten mich sprechen, sagte man mir.«
    Emilie Braun
sah zunächst in die Augen der Schwester, dann in die des Arztes und schließlich
des Polizisten. Sie zwinkerte einige Male und krächzte dann, scheinbar mit großer
Mühe: »Allein.«
    Mehr sagte
sie nicht.
    Die drei,
die vor dem Bett standen, sahen sich an.
    »Tja, dann«,
meinte Pohlmann, »muss ich Sie wohl bitten, draußen zu warten.« Schnell näherte
er sich dem Ohr des Arztes. »Kann irgendwas passieren? Ich meine, sie hat ja schon
zwei Mal versucht …«
    »Alles okay«,
beruhigte ihn der Arzt. »Sie ist stabil und hat keinerlei Spielraum, sich zu bewegen.«
Ja, das hatte Martin auch schon gesehen, diese mitleiderregende Bewegungseinschränkung.
Nicht eine Minute würde er gefesselt aushalten, dessen war er sich sicher. Langsam
und unsicher, ob sie das Richtige taten, verließen Arzt und Schwester den Raum.
Die Tür ließen sie einen Spaltbreit offen stehen. Emilie drehte ihren Kopf zur Tür.
    »Allein«,
wiederholte sie, diesmal etwas lauter und sicherer als zuvor. Die Tür wurde ins
Schloss gezogen, und sie nahm scheinbar zufrieden zur Kenntnis, dass außer ihr und
Martin Pohlmann und ein paar unsichtbaren Gestalten, mit denen sie regen Kontakt
zu pflegen schien, niemand im Raum war.
    »So. Wir
sind allein«, sagte er, um das Gespräch zu beginnen.
    »Setzen!«,
erwiderte sie lakonisch.
    Martin zog
sich einen Stuhl heran und ließ sich nieder.
    Sie diktierte
das Tempo, nicht er. Er schaute auf

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