Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Laune zu opfern, doch er entschied sich dagegen. Er parkte
einfach drei Reihen weiter vorn auf dem Parkplatz eines erkrankten Kollegen, stieg
aus und ließ sich vollregnen. Mit dem Schlüssel in der Hand spielend, wollte er
soeben sein Büro ansteuern, als Lorenz seinen Kopf durch den Türrahmen schob. Lorenz
erkannte seine Mitarbeiter am Schritt, und Pohlmanns schlurfender Gang hatte sich
in den letzten zwei Jahren auch nicht verändert.
»Martin!«,
brüllte er über den Flur. »Erst zu mir.« Pohlmann drehte sich um und eilte zum Büro
seines Chefs. Dieser jonglierte vier große Leitzordner im Arm. »Wären Sie so nett
…« Pohlmann kam seinem Chef zu Hilfe und nahm ihm die drei obersten Ordner ab. Er
sah sich um und legte sie auf den hoffnungslos überfüllten Schreibtisch.
»Alles aus
dem Archiv«, stöhnte er. »Der Fall wächst mir allmählich über den Kopf. Pohlmann,
wir müssen ganz von vorn anfangen.«
Martin konnte
sich noch keinen Reim auf Lorenz’ Rätsel machen, doch er ahnte, dass diese Andeutungen
niemand anderem galten als ihm. Wenn Lorenz etwas in der Vergangenheit über den
Kopf wuchs, bedeutete das immer, dass Pohlmann in die Bresche springen musste, und
da Lorenz in den letzten zwei Jahren auch nicht jünger geworden war, begann das
Über-den-Kopf-Wachsen vermutlich noch eher als sonst.
Pohlmann
betrachtete das Chaos, das sich im Laufe des Vormittags verdoppelt hatte. Lorenz
hatte sein kleines Büro in einen Konferenzraum verwandelt mit einem großen Flipchart
an der Wand, gespickt mit einer stattlichen Anzahl von Fotos. Zu sehen waren ältere,
teils tote, teils noch lebende Menschen. Die Toten waren an den ihnen zugefügten
Wunden zu erkennen, die man nur schwer hätte überleben können.
Pohlmann
ging zum Fenster und schielte hinaus. »Auf meinem Parkplatz steht ein blauer 5er
BMW, Hamburger Kennzeichen. HH-X-334. Blödmann«, ergänzte Pohlmann gereizt.
Lorenz hielt
einen Stapel mit DIN-A4-Blättern in der Hand und heftete sie mit Magneten an das
Board. Ohne sich umzudrehen, antwortete er: »Schätze, das ist Schöller. Meinte,
er hat da die letzten zwei Jahre geparkt. Meinte, ist doch egal, mit welchem Wagen.«
Pohlmann
zog eine Braue hoch und schnaubte: »Und wo soll ich parken, bitte schön?«
Lorenz schüttelte
den Kopf. Er hatte weder Zeit für noch Interesse an derlei Kinkerlitzchen. »Das
ist doch jetzt egal. Wir haben ein Problem.«
»Sie meinen,
es ist in der Zwischenzeit, als ich in der Klinik war, noch eins dazugekommen oder
ist es das alte Problem mit Keller und seiner Gedenkfeier?«
»Ein neues.
Größeres. Sehr suspekt. Könnte auch Mord …«
Pohlmann
schüttelte amüsiert den Kopf, verschränkte die Arme und beobachtete seinen Chef,
wie er an die 30 Blätter abheftete. Zwischendurch fielen ihm ein paar herunter und
er hob sie flugs wieder auf. Er arbeitete wie im Fieber. Gesund könne das nicht
sein, hatte Lorenz’ Arzt unlängst gemeint und ihm ein Nitro-Spray gegen Angina Pectoris
verschrieben, das er meistens auch bei sich hatte. Das Rauchen hatte er schon vor
Monaten aufgegeben, aber die Arterien hatten das noch nicht mitbekommen und gaben
sich immer noch verschlossen. Der neue, gesunde Lebensstil, bestehend aus drei üppigen
Salatblättern in der Kantine zwischen fettigen Frikadellen und Fritten sowie die
einmal wöchentlich stattfindenden Entspannungs-Meditationskurse in der Volkshochschule
als einziger Mann inmitten gestresster Frauen kam gegen den Wust an Kriminalfällen
nicht so schnell an, wie es für Lorenz’ Herz förderlich gewesen wäre. Nur noch zwei
Jahre bis zur Pensionierung, doch eigentlich wollte er gar nicht in Rente gehen.
Lorenz war ein Arbeitstier und ein eingefleischter Junggeselle. Er lebte allein
und am Wochenende gelangweilt in einem dreistöckigen, schmucken Haus in Poppenbüttel,
einem gepflegten Vorort Hamburgs. Wenn Martin sich richtig erinnern konnte, wohnte
Lorenz schon immer in diesem Haus. Es war Lorenz’ Elternhaus, ein Drei-Generationen-Haus:
Oma, Opa, Vater, Mutter, Bruder – alle unter einem Dach. Nun waren alle anderen
tot und er würde es nach Aussage seines Kardiologen auch bald sein, doch das war
ihm egal. Alles sei besser, als in Puschen sieben Tage die Woche allein durch die
Stockwerke zu schlurfen. Nein, dies entzog sich seiner Vorstellungskraft. Vor ein
paar Jahren hatte er daran gedacht, die anderen Wohnungen zu vermieten. Er entschied
sich dagegen. Viel Aufwand für ein bisschen Kohle, die man auch noch
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