Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
weitgehend geregeltes Leben, bekommen zu essen und zu trinken,
haben ein Dach über dem Kopf und sogar in gewissem Sinn eine Familie, wenn auch
keine, wie wir sie vielleicht kennen. Draußen kämen die meisten gar nicht klar,
so wie Frau Braun. Sie hat es früher ein paar Mal probiert, ist aber jedes Mal wieder
auffällig geworden und kam zurück.«
»Inwiefern
auffällig?«
»Entweder
hat sie versucht, sich auf verschiedene Weisen das Leben zu nehmen, oder sie ist
aggressiv gegen Leute in ihrer näheren Umgebung gewesen. Einmal hat sie, aber das
liegt viele Jahre zurück, einem Kerl ein Küchenmesser in den Bauch gerammt. Der
Typ wäre fast verblutet, nur weil er ihr in einer Kneipe im Suff an die Brust gefasst
hatte.«
Plötzlich
merkte Pohlmann, dass er es gar nicht mehr eilig hatte, an seinen Schreibtisch im
Präsidium zurückzukommen. Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und sah ihr
eine Weile beim Essen zu. Wie sie mit Bedacht kaute und nicht alles hinunterschlang,
so wie er es meistens tat. Ihr blondes Haar war zu einem Zopf geflochten. Ihre Haut
war blass und beinahe makellos, ohne sichtbare Unreinheiten und Pusteln, die indes
bei ihm allmählich durch das Fehlen der ecuadorianischen Sonne abheilten. Er betrachtete
ihre schlanken Finger, an denen keine Ringe zu sehen waren. Er wusste schon, dass
das Klinikpersonal während der Arbeit keinen Schmuck tragen durfte, doch er fand
auch keine ringförmigen weißen Vertiefungen von nur morgens abgenommenen Hinweisen
auf eine feste Bindung. Er schätzte sie auf Anfang 30.
Als sie
ihr Besteck ordentlich zusammengelegt hatte, schien sich der Nebel ihrer Frustration
gelichtet zu haben, sei es, weil ihr Magenknurren verstummt war oder weil es die
unterhaltende Anwesenheit des merkwürdigen Kommissars bewirkt hatte. Martin hoffte,
dass sie sich in seiner Gegenwart nicht unwohl fühlen möge, und doch musste er fortwährend
an die sonderbaren Worte von Emilie denken. Und so gab er seiner Neugier nach. »Hat
sie noch ein anderes Tagebuch geschrieben oder gibt es nur das eine?«
Annegret
wischte sich mit einer gelben Serviette die letzten Soßenreste aus den Mundwinkeln
und sah ihn fragend an. »Ich weiß nur von dieser einen Kladde. Wieso fragen Sie?«
»Sie hat
zu mir gesagt, ich darf alles lesen.«
»Alles?«
»Ja, mehr
hat sie nicht gesagt. Die ganze halbe Stunde. Dann ist sie eingepennt. Hat mir einen
Riesenschrecken eingejagt. Ich dachte schon, sie wäre …« Annegret betrachtete den
Kommissar mit Belustigung. Er wirkte in ihren Augen so hilflos, unorthodox, völlig
untypisch für einen Bullen.
»Ich darf alles lesen«, wiederholte er leise, wie zu sich selbst. »Und dieses alles
hat sie absolut betont, eben so, als gäbe es eine ganze Menge zu lesen und nicht
nur die eine braune Kladde von ihr. Vielleicht meint sie Bücher oder Notizen oder
Akteneinträge oder was weiß ich. Vielleicht wollte sie mich auch nur foppen. Ich
werde echt nicht schlau aus ihr.«
»Na ja.
Sie hat ja auch einen Haufen Medikamente geschluckt. Eigentlich müsste sie ziemlich
high sein.«
Pohlmann
sah auf die Uhr und ärgerte sich im Stillen, dass er wieder gehen musste. »Hör zu,
ruf mich an, wenn sie nicht mehr stoned ist und mir wirklich etwas zu sagen hat,
okay?« Annegret bemerkte das vertrauliche Du und grinste.
»Schätze,
Sie müssen sich auf ein paar weitere Besuche in unserer netten Pension einstellen.«
Ein koketter Blick streifte Martin.
»Ich gewöhn
mich vielleicht dran.«
*
Martin Pohlmanns Stimmung war auf
dem Weg zurück ins Präsidium nicht so schlecht, wie er es erwartet hätte. Natürlich
regnete es immer noch wie bei einer bevorstehenden Sintflut. Die Scheibenwischer
hinterließen hässliche Schlieren in Augenhöhe und der Verkehr verdichtete sich zusehends,
und doch fühlte er sich erheitert, wie schon seit Langem nicht mehr. Er suchte in
seinem Kopf nach der Ursache für das unerwartete Geschenk freudiger Gefühle. Die
Klinik mit all ihren Bewohnern konnte es nicht gewesen sein, das wäre absurd, auch
nicht die mysteriösen Andeutungen der suizidal veranlagten Emilie Braun.
Er grinste. Was ein paar nette Worte einer sympathischen Frau ausmachen , dachte er. Beinahe
beschwingt bog er in die Zufahrt zum Präsidium ein und erreichte seinen Parkplatz,
auf dem nun ein schicker blauer 5er BMW parkte. Bestimmt ein unverschämter Besucher,
der für eine Strafanzeige Beamtenparkplätze missbrauchte, vermutete er. Pohlmann
war geneigt, seine gute
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