Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Er befeuchtete seinen Zeigefinger und löschte das sich ausbreitende hässliche
Fleckchen, das seinem Chef Lorenz die Zornesröte ins Gesicht treiben würde. Er öffnete
das Fenster und schnippte die noch brennende Zigarette hinaus. Noch vor dem Auftreffen
am Boden würde sie im Regen erloschen sein. Die kühle Novemberluft erfrischte ihn
und mahnte ihn, endlich an die Arbeit zu gehen. Es half ja nichts, sie musste getan
werden.
Zunächst
begann er, die Akten zu sortieren, die Lorenz ihm gegeben hatte, und inzwischen
waren aus dem Archiv noch sechs weitere hinzugekommen.
Da waren
zum einen die Prozessakten der ehemaligen Lebensbornkinder gegen den Staat Deutschland.
Mit diesen Akten musste er sich gründlich befassen, um die Problematik etwaiger
Mordmotive an dem Nazi Gerhard Strocka zu verstehen. Nur allein auf die Aussage
einer psychisch kranken Frau hin konnte man keine Mordanklage aufbauen, erst recht
nicht gegen einen Mann, der selbst schon tot war. Möglich wäre, dass Personen infrage
kämen, die vor zwei Jahren an dem Prozess teilgenommen hatten.
Auf einem
weiteren Stapel lagen zwei Akten. In der blauen befanden sich Unterlagen zu dem
mysteriösen Selbstmord des Anstaltspsychiaters Professor Hans Keller, zu dessen
Namen in Martins Erinnerung ein entsprechendes Gesicht aufflackerte. Martin blätterte
die Papiere durch. Ballistische Untersuchungen, Skizzen vom Eintrittswinkel der
Kugel sowie ein Haufen Fotos aus der Umgebung des Raumes, in dem die Leiche gefunden
worden war.
Die rote
Akte befasste sich mit jener Emilie Braun, die irgendetwas, er wusste noch nicht
im Entferntesten, was genau, mit diesem Selbstmord zu tun hatte. Es galt zu klären,
in welchem Verhältnis sie zu Hans Keller wirklich stand, ob es eine möglicherweise
über das Arzt-Patienten-Verhältnis hinausgehende Beziehung gegeben hatte. Obgleich
ihm der Gedanke an eine sexuelle Beziehung als absurd erschien, konnte er das Bauchgefühl,
das ihn in früheren Jahren zuverlässig begleitet hatte, nicht ignorieren.
Eine letzte,
gelblich-grüne Akte porträtierte Prof. Hans Keller, beinhaltete seine Vita bis ins
kleinste Detail und beleuchtete sein außergewöhnliches Engagement für die Lebensbornkinder,
ihre Geschichte, ihre sozialen Umfelder, aber vor allem die psychischen Auswirkungen
des Aufwachsens in einer derartigen Einrichtung. Pohlmann blätterte darin herum
und bemerkte die akribischen Notizen des Professors, seine obsessiv recherchierten
Ausführungen zu den in Deutschland verstreuten ehemaligen Lebensbornheimen. Manchmal
waren gelbe Markierungen und Ausrufezeichen an den Rand gezeichnet, als gälte es,
etwas aufzuspüren, es um jeden Preis festzuhalten wie extrem wichtige Informationen.
Doch zu welchem Zweck gab sich dieser Mann so große Mühe, so viele Jahre nach dem
Kriegsende? Immerhin war Keller Psychiater und kein Historiker, obwohl diese Aktennotizen
eine andere Handschrift trugen. Zu welchem Zweck stellte Keller so viele Recherchen
an?
Pohlmann
schlug die Akte zu und setzte sich. Ermüdende Resignation stieg in ihm auf, und
er stellte fest, dass seine früher bekannt zügige Auffassungsgabe in den letzten
zwei Jahren gelitten hatte. Ein Haufen Arbeit lag vor ihm, der ihn zu erschlagen
drohte. Es war schwierig, den Anfang eines roten Fadens zu finden, an dem man sich
entlanghangeln konnte. Bislang gab es keinen Faden, sondern nur ein verfilztes Knäuel.
Erneut ging
die Tür auf und der, der ihn nun besuchte, stimmte ihn deutlich fröhlicher als der
letzte ungebetene Gast.
»Hi, Werner.
Nett, dass du mir beim Aufräumen helfen willst.«
»Nanu, was
tust du denn hier? Ich dachte, du bist schon längst im LKH. Hat Lorenz dich nicht
schon vor einer Stunde …«
Werner Hartleib
setzte sich auf den Stuhl, der dem Schreibtisch gegenüberstand. Ein alter, unbequemer
Holzstuhl, der bei jeder Bewegung quietschte, sodass man bemüht war, sich darauf
möglichst nicht zu bewegen. Er war von jeher für die bestimmt gewesen, aus denen
man ebenso unbequeme, verborgene Geständnisse herausquetschen musste. Ein Relikt
aus vergangenen Tagen, das in diesem Raum stehen geblieben war, weil es niemand
übers Herz brachte, es den städtischen Betrieben zur Entsorgung zu überlassen. Pohlmann
machte keinerlei Anstalten, sich zu beeilen. Er sah auf die Uhr. »Es ist alles okay.
Entspann dich. Ich habe es nicht besonders eilig, Werner. Lorenz drängelt genauso
wie früher. Alles immer schnell, schnell, doch diese unnötige Hast hat noch nie
zu
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