Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Südamerika zurück. Er würde den erstbesten Flug nehmen,
sich mit seiner Freundin aussprechen, sich mit ihr versöhnen, den Pachtvertrag verlängern
und so viel Calcium gegen die Allergie schlucken, bis er vor Kalk erstarren würde.
All dies würde er in Kauf nehmen, doch gleichzeitig wusste er, dass er Ecuador vermutlich
nie wieder in seinem Leben sehen würde.
»Ach, Chef.
Noch ’ne Kleinigkeit. Der BMW von Schöller ist doch ein Dienstwagen, oder?«
Lorenz sah
über seine Brille hinweg. »Klar, von Papi genehmigt. Schlüssel hängt am Brett. Wieso?«
»Hab mich
nur gefragt, ob ich nicht auch mal standesgemäß zu einem Tatort fahren sollte. Haben
Sie mal in den letzten Jahren in der alten Gurke da unten gesessen?« Pohlmann deutete
mit einer Kopfbewegung zum Parkplatz hin, auf dem der eierschalenweiße Passat stand,
der so unscheinbar wirkte, dass man ihn erst suchen musste.
»Das ist
nicht Ihr Ernst, Martin? Das ist Schöllers Wagen.«
»Das ist
ein Dienstwagen der Bundesrepublik Deutschland und vom Steuerzahler finanziert.
Warum sollte ich nicht damit fahren dürfen? Bestellen Sie Schöller ’nen schönen
Gruß von mir. Der Schlüssel vom Passat hängt da, wo er in den letzten zwei Jahren
immer gehangen hat.«
Mit diesen
Worten verließ Pohlmann das Büro und freute sich über die kleine Rache an Schöller.
Den Hieb in die Magengrube hatte er nicht vergessen. Zügig griff er sich den Schlüssel,
wählte eine ihm mittlerweile geläufige Nummer und machte sich auf den Weg ins LKH.
Kapitel 18
Hamburg-Norderstedt, 4. November
2010
Emilie Braun war schon eine Weile
wach und ließ die Gedanken frei umherschweben wie eine Möwe, von der sie nur gehört,
aber die sie noch nie gesehen hatte. Sie erkannte ihr eigenes Bett, in dem sie mehr
Stunden verbracht hatte als sonst wo auf der Welt. Sie war nach dem letzten missglückten
Suizidversuch wieder verlegt worden. Gut so. Vertraute Geräusche drangen an ihr
Ohr. Direkt hinter ihrem Kopfende, auf der anderen Seite der Mauer, hörte sie das
Wimmern ihrer Nachbarin Elfie. Eigentlich Elfriede Schmitz, aber alle nannten sie
nur Elfie. Elfie befand sich in einem dauerhaften Albtraum, der sich im Wesentlichen
so abspielte, dass sie darin verfolgt wurde. Immer, wenn man Elfie beobachtete,
saß sie auf einem Stuhl, lag auf ihrem Bett oder lief im Gang herum, und während
sie dort saß, lag oder ging, kämpfte sie oder flüchtete vor einem imaginären Feind.
Sie ballte die Fäuste, boxte in die Luft, schwang einen Säbel oder ein Messer und
schwitzte. Es schien für sie so wirklich und echt zu sein, dass man ihr Stöhnen
und Schreien, als für sie real empfunden, ernst nahm. Man wollte sie schütteln und
aufwecken, damit sie aus diesem Albtraum erwachen könne, um mit Erleichterung feststellen
zu dürfen, dass sie nur geträumt hatte. Doch was man auch tat und welche Medikamente
sie bekam, sie erwachte nie. Vor ihrem inneren Auge, in jener Welt, in der sie sich
bewegte, war sie immer ein Opfer.
Dann war
da das abgehackte Gackern von Paule, der eine diabolische Freude dabei empfand,
Mitpatienten, Besuchern oder Pflegepersonal aufzulauern und sie zu erschrecken.
Wenn ihnen das Herz im Leibe stockte, war er glücklich. Obwohl ihn jeder kannte,
gelang es dem ewig Kind Gebliebenen, neue Hinterhalte zu finden, um aus ihnen hervorzuspringen
und eben jenes hysterische Gackern ertönen zu lassen. Er hatte kein Problem damit,
alte, längst verbrauchte und somit langweilige Verstecke zu benutzen. Wenn der Punkt
gekommen war, an dem er den anderen zu sehr auf die Nerven ging oder hoher Besuch
angekündigt war, bekam er kurzerhand eine Spritze, die ihn schachmatt setzte.
Dann war
er liebenswert, sabberte und grinste die Decke des Aufenthaltsraums an.
Emmi lauschte weiter.
Von Ferne
hörte sie ihre beste Freundin Liza. Liza sang nicht annähernd wie die echte Minelli,
weder so gut noch so schlecht, je nachdem, von welcher Warte aus man es betrachtete,
doch Liza war nicht davon abzubringen, ein Star zu sein. Ihr bürgerlicher Name war
Else Spangenfeld, doch auch der interessierte hier keinen. Genau genommen war sie
nicht nur ein Star, sondern mehrere in einer Person: ausschließlich berühmte
Sängerinnen, brillant und stimmgewaltig. Gelegentlich traf sie einen Ton. Sie war
Emmis beste Freundin. Sie verstanden sich ohne Worte. Liza sang und Emmi lauschte.
Das war schon immer so.
Emmi war
am Leben und sie wusste nicht, ob sie das gut finden sollte oder nicht.
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